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Die heil’ge Schrift ein deutlich Beispiel dar,
Die sich bekämpft im Leib der Mutter haben.

70
Und gleichwie färbt der Gnade Schein ihr Haar,

Gleich also scheint das höchste Licht in ihnen,
Nach ihrer Würde, mehr und minder klar.

73
Verschieden, nicht nach dem, was sie verdienen,

Sind sie von Grad zu Grade hier gestellt,
Nur wie auf sie des Schöpfers Huld geschienen:

76
So g’nügt’ es in der Jugendzeit der Welt

Unschuld’gen, um zum Heile zu gelangen,
Daß Glaubenslicht der Eltern Geist erhellt.

79
Dann mußte, wie die erste Zeit vergangen,

Was männlich war, zuvor zur Seligkeit
Durch die Beschneidung noch die Kraft empfangen.

82
Doch blieb, als kommen war der Gnade Zeit,

Unschuld ohn’ die vollkommne Taufe Christi
Gehalten drunten in der Dunkelheit. –[1]


  1. [84. Beim Rückblick auf die ganze vorstehende Stelle ist zunächst sehr auffällig, daß D. hier, im letzten Theil des Paradieses, wo die Erkenntniß abgeschlossen und die reine Anschauung vorgeführt werden soll, noch Zweifel hat und solche sich lösen zu lassen sucht. Noch auffallender aber will uns dünken, daß diese Lösung im vorliegenden Falle weniger als je befriedigt. Sind ja doch die Aeußerungen über jene drei Bedingnisse kindlicher Seligkeit ganz ausnehmend kurz, unbestimmt und ungenügend; muß man ja doch fragen, wie es denn mit den Kindern der Heiden, die unter der Jugendzeit der Welt (V. 76) nicht inbegriffen sein können, wie es mit dem weiblichen Geschlecht im alten Testament sich verhalten habe, ob diese vorchristlichen Unschuldigen erst nach längerem Warten im Limbus oder unmittelbar, wie die Heiden nach Ges. 19, Anm. zu V. 33, zur Seligkeit eingehen konnten und ob nach Christo die Ungetauften auf ewig oder nur zeitweise, nach dem sehr allgemeinen Ausdruck: „unten zurückgehalten werden“, da ja, nach vielen Stellen, erst das jüngste Gericht den Zustand in der Hölle für ewig fixiren wird? Aber eben diese Unbestimmtheit soll sein. Eben an diesem hohen Orte soll noch einmal die Tiefe und Weite der göttlichen Erwählung – im vorliegenden speciellen Falle, wie überhaupt – der Erkennbarkeit und Faßbarkeit für den Menschengeist entrückt und vielmehr der intuitiven Anschauung in der Ewigkeit zugewiesen werden, an deren Grenze (aber erst Grenze!) D. hier steht. Dies halten wir für Motiv und Kern der Stelle, deren Schwergewicht [606] die Verse 64, 65 und 66 bilden, und hinsichtlich welcher also von einem gelegentlichen Nachtrag oder gar einer Inconsequenz in der Durchführung des letzten Abschnitts des Paradieses nicht die Rede sein kann. Vielmehr scheint sie uns consequent zum Abschluß zu bringen, was wir schon aus Ges. 19, 33 und 21, 72 entnommen haben und was den Sinn des Dichters in unsern Augen nur ehren kann: daß ihm nämlich auch in diesem Dogma die Anschauungen seiner Zeit, seiner sonst gutgeheißenen scholastischen Lehrer, nicht genügten, obwohl er, um der Schwierigkeit der Sache willen, eine mildere Sonderansicht nicht herauszusagen wagt, da ihm alles erst im ewigen Lichte spruchreif erscheint – eine Denkungsart, womit er gewiß auch hierin auf biblischem Grunde steht. Indessen ist nicht zufällig, wenn D. diese letzten Aeußerungen hier dem heil. Bernhard in den Mund legt, welcher selbst seine Betrachtung, „daß den ungetauften Unmündigen vor Christo Beschneidung und Glaube der Eltern die Seligkeit erwirke“, mit den Worten schließt: „ob aber weiterhin? das mag Gott wissen“, „num ultra, penes Deum est, non me, definire.“]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 605. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_605.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)