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Zweiunddreißigster Gesang.
Empyreum, Fortsetzung. – Bernhard erklärt die Rose im Einzelnen; ihre beiden Halbrunde; die Gesammtheit der Seligen. – Ueber die Erwählung der Kinder.

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Indeß sein Blick nach seiner Wonne flammte,[1]

That er mit heil’gem Wort mir dieses kund,
Sich unterziehend freiem Lehreramte:


  1. [XXXII. 1. Das Innere der Himmelsrose. – Die, in ihrer allgemeinen Gestaltung schon zu Ges. 30 beschriebene, auf dem dortigen, kreisrunden Lichtstrom (Lichtssee) oder um ihn herum sich zu verschwimmender Höhe und Weite erbauende Himmelsrose enthält also in sich die Gesammtheit der Seligen aus allen Kreisen vereinigt, da, wo sie wirklich ist (vgl. Vorbem. zu Parad.; Gesang 22, 64 ff.) und wie sie wirklich ist, nämlich in unverhüllten, menschlich-kennbaren Zügen (vgl. Ges. 3, 60; ebenda zu V. 49–108; zu Ges. 4, 19–63; Ges. 22, 63 und zu 64 ff.). Gemäß dem, in Ges. 20, 104. 105 aufgestellten und hier in V. 22 ff. wiederholten Princip zerfällt die ganze, selige Menge in zwei Hälften, nämlich die Seelen, die vor Christo und diejenigen, die nach Christo an Ihn geglaubt haben. – Dem entsprechend denke man sich das ganze amphitheatrale Rund, voll unzähliger wagrechter Sitzreihen in seinem Innern, durch zwei, in der Linie des Kreisdurchmessers einander gegenüberliegende, von oben bis unten senkrecht herablaufende, Sitzreihen in zwei riesige Halbrunde geschieden (V. 20 ff. 41). Das eine nehmen die Frommen des alten, das andre die des neuen Testaments ein. Und zwar beide Male bis zur Mitte herab, wo wieder eine Wagrechte die sogen. Scheidewand schneidet V. 40 ff., die Erwachsenen; von der Mitte an bis an den Rand des Lichtssee’s herab, da, wo in der irdischen Rose die zartesten, am Wenigsten entfalteten Blätter sind, die Kinder. Dies die Grundzüge des Baues der Himmelsblume und ihrer „Blätter- oder Locken-Kränze“ Ges. 30, 115; Ges. 32, 18. – – Der Dichter verweilt noch im vorliegenden Gesange, besonders bei der näheren Beschreibung jener beiden, einander gegenüber senkrecht durchlaufenden Sitzreihen, welche ebenso das Ganze zu theilen, als auch den Uebergang von einem zum andern Halbrund sinnig zu vermitteln bestimmt sind. Dieselben werden gebildet, bezhw. eingenommen von den hervorragenden „Erstlingen“ beider Testamente. Hierzu wählt Dante merkwürdigerweise auf der einen Seite fast nur Frauen, auf der andern fast nur Männer. Nur oben an der Spitze jeder Reihe, wo dieselbe zugleich drei- bis vierfach besetzt ist und wo wieder die Hervorragendsten unter den Hervorragenden sitzen, sind Frauen und Männer in eine sehr sinnvolle Nebeneinanderstellung gebracht. Betrachten wir die [601] eine Reihe, V. 4–17, 118–132! Oben thront Maria; unter ihr Eva; unter dieser Rahel und Beatrix nebeneinander (vgl. zu Fegf. 27, 97 und Hölle 2, 102), Beatrix zur Rechten, aus einem sofort ersichtlichen Grunde; unter diesen hintereinander Sara, Rebecca, Judith, Ruth; unter diesen, zusammen sieben Jüdinnen (V. 16; vom siebten Ring ab) andere, ungenannte Hebräerfrauen. Nun aber noch rechts von Maria Petrus und Johannes der Evangelist, links von ihr zunächst Adam und dann Moses! Hier (links) schließt dann sehr schön das alte Testament an, dessen Reihen voll sind; dort (rechts; daher Beatrix rechts von Rahel!) ebenso passend an Petrus und Johannes das neue Testament, oder die Gläubigen nach Christo, allwo noch viele leere Sitze sich finden, V. 22–27 (vgl. Ges. 15, 30 und 30, 135 ff.). Der leitende Gedanke, die Brücke vom alten zum neuen Testament in diesen Gestalten darzustellen, tritt hier im Ganzen klar hervor. Beatrix zwar ist offenbar in diese Reihe gestellt, nur um ihr den Ehrenplatz gleich hinter Maria zu sichern. Aber Eva wird von D. in V. 6 selbst erklärt als die „Schönste“, d.h. die von Gott unmittelbar und gut Erschaffene, welche erstmals die göttl. Erlösungs-Verheißung empfing, in Betreff des Unheils, das sie selbst in die Welt gebracht und das Maria in Heil verwandeln sollte, dasselbe, was nach V. 121 ff. auch von Adam gilt; Judith ward im Mittelalter ebenfalls für einen allegorischen Typus auf die Erlösung Israels, ja auf die Kirche gefaßt und die Uebrigen bieten keinen Anstand dar. – Nicht so klar ist die Auswahl und Zusammensetzung der anderen Reihe, V. 28–36, 133–138. Zunächst bildet an ihrer Spitze ein treffendes Pendant der Maria Johannes der Täufer, ihm zur linken, Petro gegenüber und zugleich Marien V. 134, die heil. Anna, ihm zur Rechten und Adam gegenüber, Lucia. Erstere kommt so gegen das neue Testament hin zu sitzen, ohne Zweifel mit Rücksicht auf die Legende, daß sie noch mit Jesu gelebt und also an den Gekommenen geglaubt (Notter). Letztere kennen wir schon aus Hölle 2, 97 ff.; Fegf. 9, 56 als eine Allegorie, als eine der drei Himmelsfrauen, welche die Rettung Dante’s bewirken und eigentlich nichts Anderes, als Specification der göttlichen Liebe oder Gnade sind. Kommt nun hierbei der Maria die eigentliche Initiative, der Lucia aber die allernächste, erste Ausführung zu, als „der vergebenden, sündentilgenden Gnade oder dem göttl. Mitleid“ (Hölle 2), wie der Beatrix die Vollendung: so erscheint uns eben hieraus erklärlich, weshalb diese Lucia – keineswegs im Widerspruch mit dem Princip der ganzen Anordnung, wie Notter annimmt – gegen das alte Testament hin, wiederum als Brücke zu demselben, gesetzt ist, gleicherweise, wie Beatrix auf der andern Seite gegen das neue Testament hin ihren Platz hat, Maria aber in der Mitte. Nun aber folgt nach unten, einer hinter dem andern, eine Anzahl von Männern, bei denen der Grund [602] ihrer Auswahl sowohl als Anordnung in der That schwierig zu bestimmen ist. Es sind: der heil. Franz unmittelbar unter dem Täufer, dann Benedict und Augustin. Wollte der Dichter die Rücksicht auf die Ueberleitung vom alten in’s neue Testament ferner walten lassen, so mußte er wohl eher Pendants der alttestamentlichen Frauen, also Gestalten wie Abraham, David u. a., wählen. So bleibt also anzunehmen, daß es ihm hier mehr um Betonung der Scheidung zwischen beiden und Hervorhebung gewisser Marksteine in der christlich-kirchlichen Entwicklung zu thun war, wozu jene bedeutenden Männer der Kirche wohl geeignet erscheinen. Während aber bei den Frauen gegenüber die historische Ordnung, mit Ausnahme der Umstellung der beiden letzten, Judith und Ruth, befolgt ist, so fängt hier die Reihe mit dem spätesten an und endet mit dem frühesten; und es läßt sich sachlich wohl kaum erklären, warum der große, geniale Augustin unter den heil. Franz gestellt sein soll. Wir glauben, hier muß man einfach zugestehen: D. hat seine Lieblinge. Und so wenig er jemals die individuelle Neigung in der, wunderbar strikt und folgerichtig bis in’s Kleinste ausgearbeiteten, Organisation unsres Gedichts als störende Willkür hervortreten läßt, so gewiß läßt er dieselbe doch manchmal, hier und anderwärts, in untergeordneten Punkten walten. Seine Vorliebe aber für Franz und Benedict kennen wir aus Ges. 11 und 22; ja den letzteren hat er Ges. 22, 59 insbesondere unverhüllt schauen zu dürfen gebeten, was ihm dort für den letzten Kreis in Aussicht gestellt und nun hier zu Theil wird. Andere übrigens, sagt V. 36 ausdrücklich, sitzen unter den Genannten, unter welchen man sich diesen oder jenen Vermißten denken mag.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 600. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_600.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)