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Der Ost den Himmelstheil mit goldnen Strahlen
Besiegt, in dem die Sonne niedergeht,

121
So, steigend mit dem Blick, wie wir aus Thalen

Die Berg’ ersteigen, sah ich einen Ort
Im höchsten Rand all Andres überstrahlen.

124
Und als ob früh der Ost, da, wo sofort

Die Sonne steigen soll, sich mehr entflamme,
Wenn sich das Licht vermindert hier und dort;

127
So sah ich jene Friedens-Oriflamme[1]

Inmitten mehr erglühn, und bleicher ward
Bei ihrem Glanz der andern Lichter Flamme.

130
Ich sah viel tausend Engel, dort geschaart,

Sie feiernd, mit verbreitetem Gefieder,
Verschieden Jeglichen an Glanz und Art.

133
Und Schönheit lachte bei dem Klang der Lieder

Und bei dem Spiel, und strahlt’ in Seligkeit
Aus aller andern Sel’gen Augen wieder.

136
Und reichte meiner Sprache Kraft so weit,

Als meine Phantasie, doch nie beschriebe
Ich nur den kleinsten Theil der Herrlichkeit.

139
Bernhard, bemerkend, daß mit heil’gem Triebe

An seiner glüh’nden Glut mein Auge hing,[2]
Erhob auch sein’s zu Ihr mit solcher Liebe,

142
Daß mein’s zum Schauen neue Glut empfing.
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  1. [127. „Friedens-Oriflamme“ (aurea flamma, d. h. das Friedenspanier der Kirche, wie die historische Orifahne das Kriegspanier der weltlichen (französischen) Könige ist.]
  2. 140. An seiner glüh’nden Glut (al caldo suo calor), an dem Gegenstande seiner Glut, der Maria, die hier selbst glühte. [Vgl. Ges. 32, 1.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 599. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_599.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)