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Der ew’gen Kraft, die, theilend ihren Schimmer,
So unzählbaren Spiegeln ihn verleiht,

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Und Ein’ in sich bleibt ewiglich und immer.“
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Dreißigster Gesang.[1]
III. Abtheilung. 10) Das Empyreum, der eigentliche Himmel, Sitz der Seligen und Gottes selbst. – Die Engel der neunten Sphäre verschwinden. Höchster Glanz der Beatrix. Der kreisrunde Lichtstrom; die Himmelsrose; Heinrichs VII. Platz; Clemens’ V. Fall.

1
Uns fern, etwa sechstausend Meilen, steiget[2]

Der Mittag auf, indeß schon diese Welt
Den Schatten fast zum eb’nen Bette neiget,


  1. [XXX. Vorbemerkung. – Die, in der Vorbem. zu Ges. 23–29 bezeichnete, letzte Erkenntnißprobe des Dichters ist bestanden, das dort vorgesteckte Ziel der Anschauungsreife ist nunmehr erreicht. Es erübrigt für Dante, zur Vollendung seiner Seligkeit und zum Abschluß des ganzen Gedichts, nur noch, dieser Gottesanschauung [585] wirklich gewürdigt zu werden und hierin zugleich die (mystische) Gottesvereinigung und den Vollgenuß des seligen Lebens zu erlangen (Vorbem. S. 397 unten). Dies geschieht eigentlich im letzten, dreißigsten Gesange, wo der Dichter nicht mehr blos Christum allein und auch diesen vorübergehend und in Folge einer besonderen Herabsenkung desselben zu ihm, wie Ges. 23, 85–87, sieht, sondern die heil. Dreieinigkeit selber schaut, 33, 52–Ende. Dante begnügt sich aber nicht, nur jene Spitze und Krone der vollendeten Gottesanschauung uns vor Augen zu bringen. Sein kühner Genius vermißt sich, uns einen näheren Begriff der seligen Vereinigung mit Gott und Einblick in sein Reich der ewigen Herrlichkeit zu geben. Daher wird uns auch dieser letzte Act stufenweise vorgeführt und hierin liegt der Gang der noch folgenden Gesänge. Sowohl um des Zusammenhanges willen, als um allzuviele, unterbrechende Einzelbemerkungen zu verhüten, ist es nöthig, denselben ebenfalls, wie sonst, zum Voraus zu skizziren. – Es sind drei Stufen, in welche, unter Anschluß an die scholastische Theologie, auseinandergelegt wird, was jenseits von Raum und Zeit und darum auch in Wahrheit nicht zeitlich trennbar, in der Ewigkeit im seligen Menschengeist auf höchster Stufe vorgeht. I. Vorstufe, Vorahnung, Ges. 30, 46–123 (nach vorangehender, kurzer Beschreibung des Empyreums V. 37–45). Da die Gottesanschauung ihrem Wesen nach eine unmittelbare Vereinigung unsrer „geistigen Sehkraft“ (V. 58) mit dem höchsten Wesen selbst ist, welches jedoch an sich nicht unerkennbar im creatürlichen Sinn ist (V. 79 ff.), so handelt es sich zunächst um eine Vorbereitung oder Tüchtigmachung unsres Geistes (Intellekts, V. 40), der Kerze, V. 54, für diese unmittelbare Einwirkung des göttl. Lichts. Diese Vorbereitung geschieht selbst wieder durch eine unmittelbare, göttliche Erleuchtung, bezhw. Umwandlung der natürlichen Anschauungsweise in eine übernatürliche (lumen gloriae) und es scheint uns D. dieselbe abermals in drei Graden vorstellen zu wollen, indem 1) zunächst das natürliche Licht ihm völlig vergeht V. 46–51, und zwar nothwendigerweise nach jenem höheren Naturgesetz, welches wir eben erwähnt haben und welches ihm in V. 52–54 auseinandergesetzt wird. 2) Aber eben aus diesem Vergehen des natürlichen Lichts entspringt ihm jene nöthige, neue Sehkraft, V. 55–60; doch noch nicht genügend. Er erblickt einen langen Strahlenstrom, umsprüht von Funken, umblüht von Blumen – ein prachtvolles Gemälde! – V. 61–69. Doch dies alles ist nur erst ein Bild des Wahren, welch Letzteres er erkennen kann und wird, wenn er erst aus dem Lichtstrom getrunken, V. 70–81. 3) Eilig thut D. diesen Trunk – das paradiesische Gegenbild des Eunoëtrunks am Ende des Fegf. – und nun ist alles verwandelt vor ihm V. 82–88; 91–93. Der, erst längliche, Strom, erscheint kreisrund, von welcher Wandlung der doppelte Sinn denkbar [586] ist, daß das göttliche Licht, Leben und Walten (in Christo, wie wir sehen werden), vom uneingeweihteren Auge nur in seinem Ausgang auf die Creatur, nicht aber in seiner Rückkehr zu ihm bemerkt wird und ebenso, daß nur der Eingeweihte dasselbe in seiner wahren Gestalt erschaut, d. h. nicht mehr blos im geschichtlichen Nacheinander, sondern im ewigen Ineinander und Miteinander, V. 89. 90. Und damit erscheint auch dasjenige in seiner wahren Gestalt, was bisher als Blume und Funke diesem Strom zu entwachsen und zu entsprühen schien – die seligen Menschen und die seligen Engel, V. 94–96. Noch mehr. Vor Dante’s Blick fügt sich jetzt alles dies Geschaute zusammen zur nächsten und unmittelbarsten Vorahnung, zum himmlisch-vollkommenen Abbild des – ihm noch verborgenen – göttlichen Wesens selbst, zum Gesammtbild des himmlischen Reichs der Glorie und Herrlichkeit V. 97–99. Da erbaut es sich vor ihm eben auf jenen kreisrunden Lichtstrom, („welcher den Schöpfer sichtbar macht“ V. 100, „aus dem einen Strahl seines Lichtes entspringend“ V. 106, in dem alles geschaffen ist und besteht V. 107 ff.) und wächst in tausend Stufen empor, ein majestätisches, hohles, amphitheatrales Rund, der Sitz der Engel und Seligen, die „Himmelsrose“, in der alles nah und alles fern, jedes irdische Raumgesetz aufgehoben ist, V. 109–123. Und jenes Licht, worauf sie sich erbaut, kann ja Niemand sein als Christus, der mit unzweideutiger Plastik in V. 106–108 gezeichnet ist, wie er zwischen Gott und der Welt als das Lichtsprincip der Schöpfung und Erlösung steht (logos). Und hier enden die Aufschlüsse der Vorstufe, hier, in der Vorahnung, aber noch nicht Anschauung der Dreieinigkeit, der Gottheit selbst. – II. Zweite Stufe, Verarbeitung, Ges. 30, 124–Ges. 32, Ende. Ein eigentlich innerer Fortschritt D.’s erfolgt hier nicht, weshalb wir eben diese Stufe die der „Verarbeitung“ genannt haben. D. hat sich zunächst mit dem Detail des himmlischen Reiches, der Himmelsrose, näher zu befassen. Einen Theil davon sieht er noch unter der Weisung oder wenigstens der Anwesenheit der Beatrix V. 124–31, 57. Dann ist diese plötzlich verschwunden Ges. 31, 58 ff., da ja ihre Aufgabe, als der zu Gott führenden Gnade, eigentlich schon von Ges. 30 (V. 19 ff.) an als vollbracht anzusehen ist und D. sie überdies noch als historische Person und Jugendgeliebte im Kreise der Seligen zeigen (apotheosiren) wollte. An ihrer Statt steht der heil. Bernhard da, welcher zunächst einfach die von ihr angefangene Erklärung der Himmelsrose vollendet, Ges. 31, 94 ff. und Ges. 32. – Sodann aber erhält er eine selbständigere Bedeutung sofort III. in der dritten Stufe, der Vollendung, Ges. 33, wo er den Dichter, unter Gebeten zur Maria, zum letzten und höchsten, im Anfang dieser Vorbemerkung schon näher bezeichneten Ziele hingeleitet. Wenn nun Ges. 30, 51 deutlich gesagt wird, was auch aus dem ganzen Entwicklungsgang hervorgeht, [587] daß D. jetzt in der That keines Führers oder Vermittlers mehr bedarf, da er ja die unio im Keime schon hat (I), und auch Maria, wie wir dort sehen werden, keineswegs als fremde, äußere Mittelsperson mehr auftritt: so wird nicht mit Unrecht zu sagen sein, daß wir im heil. Bernhard die symbolische Personification der Mystik selbst haben, als welche, nach des Dichters Glauben, in ihrer jenseitigen Vollendung eben nichts anderes ist und zu nichts anderem führt, als zur unio mystica, zur Gottesanschauung und Gottvereinigung. Und in diesem symbolischen Sinn also ist sein, ohnedem kurzes und auf ein bloses Gebet beschränktes, Auftreten in Ges. 33 zu fassen; s. zu 32, 151. – Was die Poesie in diesen letzten Gesängen betrifft, auf welche wir, gelegentlich V. 61 ff., 97 ff. in Gesang 30, schon hingewiesen haben, so entfaltet sie wieder ihre Schwingen in dem Maße mehr, als die Natur der rein himmlischen und übersinnlichen Dinge ihr den freiesten Spielraum läßt und als der Dichter, angesichts des Abschlusses seines, mehr als zwanzig Jahre im Busen gehegten, „heiligen Liedes“ (25, 1 ff.), weit entfernt zu erlahmen, vielmehr mit ungeminderter Kraft noch einmal die ganze Glut seines Empfindens im Farbenglanz seiner herrlichen, bilderprächtigen Diktino ausströmt, so daß die Länge und oft dornenreiche Schwierigkeit des Wegs, den er uns besonders in diesem dritten Theil geleitet, in Vergessenheit sinkt vor der sieghaften Gewalt seines Genius, mit der er denselben zu Ende führt.]
  2. [587] 1.[WS 1] Wenn es sechstausend (italienische) Meilen ostwärts Mittag ist, so wird es bei uns [in Italien] (im Frühling und Herbst) Morgen. Die Erde nämlich hat im Umkreise 21,600 italienische Meilen, deren 60 auf einen Grad gerechnet werden. Zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche müssen daher Morgen, Mittag, Abend und Mitternacht noch gerade um ein Viertheil des Erdumfanges, folglich 5400 Meilen von einander entfernt sein. Da aber Dante nicht vom Anfange der Sonne selbst, sondern von der Morgendämmerung spricht, so nimmt er eine Entfernung von ungefähr 6000 Meilen an. Zur Morgendämmerung aber fällt schon der Erdschatten westwärts hin in den Raum (hier das ebene Bette genannt), und sinkt immer tiefer, je höher die Sonne emporsteigt. [Die Sterne verschwinden dann – einer um den andern, zuletzt der „schönste“, der Morgenstern – von dem lichthellen, sie überstrahlenden Himmel; und ebenso wie sie, verschwinden vor Dante’s Auge die Engel vor dem, sich immer heller, aus der Gottesnähe, erschließenden Empyreumslicht.]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Anmerkung vorgereiht.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 584. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_584.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)