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Und ohne Sünd’ in Wort und Leben ist,

76
Und er ungläubig, ungetauft gestorben,

Wo ist dann wohl ein Recht, dem er verfällt?
Wo Schuld, daß er den Glauben nicht erworben? –

79
Und wer bist du, der sich so hoch gestellt,

Um, richtend, tausend Meilen weit zu springen,
Da eine Spanne kaum dein Blick enthält?

82
Gewiß, daß die mir nach im Forschen ringen,[1]

Wär’ über euch nicht Gottes heil’ges Wort,
Zum Zweifel und Erstaunen Grund empfingen!

85
O Thier’ aus Erd’! ihr stumpfen Geister dort!

Der erste Wille, gut von selber, gehet[2]
Nie aus sich selbst, dem höchsten Gute, fort.

88
Gerecht ist, was mit ihm in Einklang stehet.

Ihn kann nicht anziehn ein erschaffnes Gut,
Das nur aus Seiner Strahlenfüll’ entstehet.“ –

91
Wie über ihrem Nest die Störchin thut,

Wenn sie die Brut gespeist, im Kreise schwebend,
Und wie nach ihr hinschaut die satte Brut;

94
So that – und so auch ich, das Aug’ erhebend –[3]

Das heil’ge Bild, das seine Flügel schwang,
Durch ein’gen Willen Aller aufwärts strebend,[4]


  1. [82 ff. Mir nach. Die Seligen dürfen die Geheimnisse des göttl. Waltens erforschen, ja schauen. Der Mensch hat sich einfach unter die Autorität der Schrift zu beugen, weil er, nicht zu jener Klarheit des Erkennens befähigt, den Zweifeln sonst erliegen würde.]
  2. [86–90. Tendenz dieses Satzes ist, wie zu V. 33. 1) am Schluß im Zusammenhang bemerkt worden, daß die göttl. Gerechtigkeit und die göttl. Güte niemals sich ausschließen können. Die Begründung, wie folgt: Der erste, der göttl. Wille, als gerechter, kann nie mit sich selbst, dem absolut Guten, in Widerspruch kommen, V. 86, 87. Was ihm entstammt und entspricht, ist also immer das unbedingt Rechte, V. 88. Das endliche, geschaffene Gute „zieht ihn nicht erst nach sich hin“; er ist von selbst nothwendig immer auf das Gute gerichtet, dessen Begriff und Existenz auf Erden ja nur ein Abglanz, ein Strahl (V. 52) von ihm, dem Urguten, ist, V. 89, 90. Damit haben wir uns zu bescheiden.]
  3. 94. So that das heilige Bild, und so that auch ich, das Aug’ erhebend. Im Original ist der Text getrennt, wie in der Uebersetzung.
  4. [96. Wörtlich: „Bewegt von so vielen Entschlüssen“. Der Adler [516] erhebt sich höher durch gemeinsamen Entschluß aller seiner Mitglieder; wiederum ein typisches Bild der Einigkeit und Gerechtigkeit.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_515.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)