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Als noch Virgil bestimmt war, mich zu leiten,

Um auf den Berg, der unsre Seelen heilt,
Und zu der todten Welt hinabzuschreiten,

22
Ward von der Zukunft Kunde mir ertheilt,

Die hart ist, mag ich auch als Thurm mich fühlen,
Der trotzend steht, wenn ihn der Sturm umheult.

25
Drum wüßt’ ich gern, um meinen Wunsch zu kühlen,

Welch ein Geschick mir naht. Vorausgeschaut,
Scheint minder tief ein Pfeil sich einzuwühlen.““

28
Ich sprach’s zum Licht, das mir mit süßem Laut

Gesprochen hatt’ und hatt’ ihm nun vollkommen,
Nach meiner Herrin Wink, den Wunsch vertraut.

31
In Räthseln nicht, wie man sie einst vernommen,[1]

Bestimmt, ein Netz für Thoren-Wahn zu sein,
Eh’ Gottes Lamm die Sünd’ auf sich genommen,

34
In klarem Wort und bündigem Latein

Antwortete mir jene Vaterliebe
Verschlossen in der eignen Wonne Schein:

37
„Der Zufall, Werk allein der Erden-Triebe,[2]

Malt sich im ew’gen Blick, wie vorbestimmt,
Und keiner ist, der ihm verborgen bliebe,

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Obwohl er euch die Freiheit nicht benimmt,

So wenig, als das Aug’ ein Schifflein leitet,
Das drin sich spiegelt, wenn’s strom-unter schwimmt.

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Wie Orgel-Harmonie zum Ohre gleitet,

So kann mein Aug’ im ew’gen Blicke sehn,
Welch ein Geschick die Zukunft dir bereitet: –


  1. 31. Nicht mit dunkeln und zweideutigen Worten, in welchen vormals die Orakelsprüche verkündet wurden.
  2. [37 ff. „Zufälliges“ oder „des Zufalls Wechselspiel“ hat hier nichts mit unsrem Worte „Zufall“ zu thun. Der Sinn ist vielmehr, daß auch jene elementaren „zufälligen“ d. h. mittelbar erschaffenen Dinge, wie sie in Ges. 13, 64 ff., 7, 124 ff. definirt sind, unter göttl. Vorsehung und Vorausbestimmung, aber ohne Beschränkung der menschlichen Freiheit, stehen – eine Anschauung, welche der Leser aus Fgf. 16, 70 ff., 18, 61 ff., Par. 8, 98 ff. schon kennt. Unsre Stelle ist also ein wiederholter, kurzer Protest gegen Zufälligkeitslehre wie Prädestinationstheorie, wie solcher der folgenden Darstellung der einzelnen, schmerzlichen Schicksale des Dichters nicht unpassend im Munde eines Seligen vorangeht, um auch das Kleinste im Leben als eingerechnet in den großen Welt- und Heilsplan erkennen zu lernen.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_499.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)