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Und mache schwer dich, gleich dem Müden, gehen
Zum Ja! und Nein! wo nicht dein Auge frei,

115
Denn unter Thoren selbst sieh’ niedrig stehen,

Die sich zum Ja und Nein ohn’ Unterschied
Gar schnell entschließen, eh’ sie deutlich sehen;

118
Drob sich die Meinung, wie es oft geschieht,

Zum Irrthum neigt, und dann im Drang des Lebens
Die Leidenschaft das Urtheil mit sich zieht.

121
Wer nach der Wahrheit fischt, und, irren Strebens,[1]

Die Kunst nicht kennt, der kehrt nicht, wie er geht,
Und schifft vom Strand drum schlimmer als vergebens,

124
Wie ihr dies an Melissus deutlich seht,

Und an Parmenides und andern Vielen,
Die gingen, eh’ sie nach dem Ziel gespäht;

127
Drob Arīus und Sabell in Thorheit fielen.

Gleich Schwertern waren sie dem heil’gen Wort,
Und machten die geraden Blicke schielen.

130
Nicht reiß’ euch Wahn zum schnellen Urtheil fort,

Gleich denen, die das Korn zu schätzen wagen,
Das eh’ es reift, vielleicht im Feld verdorrt.

133
Denn oftmals sah ich erst in Wintertagen

  1. 121 – 129. Wer ausgeht, die Wahrheit zu suchen, ohne zu wissen, durch welche Mittel sie zu finden sei, kehrt nicht nur, ohne sie gefunden zu haben, folglich vergebens, zurück, sondern er bringt auch an ihrer Statt neue Irrthümer mit sich. Dies wird bewiesen durch das Beispiel der V. 124 und 125 benannten Philosophen, welche Lehrsätze aufstellten, die Dante für falsch hält, obgleich man noch jetzt über die Sache nicht eben viel Zuverlässiges weiß – und durch das Beispiel der V. 127 benannten Hauptketzer, welche die heilige Schrift verstümmelten und ihr einen falschen Sinn unterschoben. [Streckfuß scheint hier doch Kannegießer’s Auffassung im Auge gehabt zu haben, daß man sich in einem Schwert verzerrt und schielend sieht – so die Bibel im Spiegel der arianischen Lehre. Wir glaubten uns daher, trotz der undeutlichen Wendung und seiner eigenen, nicht damit übereinstimmenden Erklärung, zu keiner Aenderung berechtigt. Sonst wird übersetzt: sie verfuhren wie Schwerter mit der h. Schr., ihr gerades Antlitz entstellend.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_478.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)