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Und hinter sich, durch ihren Wink allein,
Die Frau, mich und den Weisen, der geblieben.

16
Sie ging, doch mochten’s kaum zehn Schritte sein,

Die sie gegangen und uns gehen lassen,
Da blitzt’ in’s Auge mir des Ihren Schein.

19
„Geh jetzt geschwinder,“ sagte sie gelassen,

„Komm’ näher her, daß, red’ ich nun mit dir,
Du wohl vermögend seist, mein Wort zu fassen.“

22
Kaum war ich, wie ich sollte, nah’ bei Ihr,[1]

Da sprach sie: „Bruder, bist mir nah’ gekommen,
Doch zu erfragen wagst du nichts von mir?“

25
Wie wenn von zu viel Ehrfurcht schwer beklommen

Mit seiner Obrigkeit ein niedrer Mann
Halblaut und stockend spricht und kaum vernommen,

28
So sprach ich jetzt, da ich zu Ihr begann:

„„O Herrin, ihr erkennt ja mein Verlangen,
Und was ich brauch’ und was mir frommen kann.““

31
Und Sie: „Mach jetzt dich los von Scham und Bangen,

Ich will’s, und rede sicher nun und wach
Und nicht wie Einer, der im Traum befangen.

34
Es war der Wagen, den der Wurm zerbrach,

Er ist nicht; doch der Schuld’ge wiss’: es scheute,
Vor keinem Zauber je sich Gottes Rach’![2]

37
Nicht immer sonder Erben wird, wie heute

Der Adler sein, der ihm die Federn ließ,
Drob er erst Ungeheuer ward, dann Beute.

40
Schon nahen Sterne sich – wie ich’s gewiß

  1. [22. „Bruder“; neue Anrede an den jetzt Geläuterten, Gerechtfertigten! B. ahnt, daß D. die vorangehende Vision nicht ganz verstanden habe, aber nicht wage, sie darüber zu befragen.]
  2. [36 ff. „Der Wagen war und ist nicht mehr,“ wieder aus Offenb. 17, 8. Durch die in Ges. 32 geschaute Mißordnung und weltliche Buhlerei ist die Kirche, in ihrem rechten Bestand, vernichtet. Der daran Schuldige, ob nun Dante Bonifaz VIII., der eben im Jahr 1300 regierte (vgl. Parad. 27, 24), Clemens V. oder Philipp den Schönen meint, braucht nicht genannt zu werden; denn Gottes Rache kennt und trifft ihn sicher, sie, die vor keinem menschlichen Zauber, wörtlich „Sühnmahl“, sich scheut! Nach damaligem Glauben war nämlich ein Mörder dann vor der Blutrache sicher, wenn er innerhalb neun Tagen auf dem Grab des Ermordeten Brod und Wein genossen hatte, weshalb die Gräber so lange bewacht zu werden pflegten.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_390.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)