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Nicht harren solltest du der andern Pfeile,
Des Mägdleins nicht, noch andrer eitlen Zier!

61
Der junge Vogel harrt in träger Weile

Des zweiten Pfeils, doch der Beschwingte flieht
Und schützt vor Netz und Pfeilen sich durch Eile.“

64
Gleichwie ein Knabe schweigend niedersieht,

Wenn Vorwurf und Bewußtsein ihn verstören,
Und Reue sein Gesicht zur Erde zieht;

67
So stand ich dort: „Betrübt dich schon das Hören,“

Sie sprach’s, „so sei emporgewandt dein Bart;[1]
Mein Anblick wird noch deinen Schmerz vermehren.“

70
Der Eiche Widerstand ist nicht so hart,

Läßt ihre Wurzel sie dem Grund entreißen,
Wenn sie von Südsturm’s Macht durchschüttelt ward –

73
Als meiner, da sie dieses mich geheißen!

Auch fühlt’ ich, da sie Bart für Antlitz sprach,
Des Wortes Gift an meinem Herzen reißen.

76
Das Antlitz hob ich zögernd und gemach,

Und sieh, die schönen englischen Gestalten,
Sie ließen jetzt im Blumenstreuen nach.[2]

79
Mein Blick, kaum fähig noch, ein Bild zu halten,

Erschaute Sie, dem Greifen zugewandt,[3]


  1. [68. Dante versetzt die Vorgänge der göttl. Kom. in sein 35. Jahr. Der Ausdruck „Bart“ soll also die schneidige Hinweisung enthalten, daß Beatrix ihm jetzt erst, in seinem reiferen Alter, den ganzen bisherigen Irrweg klar machen müsse und daß sie um so mehr erwarte, er werde jetzt ernst genug sein, denselben einzusehen. Dabei ist, wie immer, sowohl an jene besonderen „Jugendverirrungen“, als auch an seinen bis dato unbekehrten Herzenszustand überhaupt zu denken. – Sämmtliche erhaltene Porträts von Dante zeigen keinen Bart, weil sie theils aus dessen früherer Jünglingszeit stammen, theils von einer Todtenmaske abgenommen sind, während also der Dichter im Leben einen solchen trug.]
  2. [78. Die, Schlag auf Schlag folgenden, Vorwürfe Beatricens, erst noch von liebender Milde durchweht, dann streng und hagelgleich sich ergießend; ihnen gegenüber die scharf und psychologisch-wahr gezeichnete Gestalt des Dichters, seine gebrochenen Worte und Seufzer, sein innerer Kampf, seine zögernde Aufraffung; im Hintergrund der Zug der Kirche, die Schaar der Engel, eine glänzende Scenerie und doch mehr als bloße Scenerie – dies alles bietet ein außerordentlich schönes, dramatisch-bewegtes Bild.]
  3. [80 ff. Bei dem nun beginnenden Acte der Eintauchung wendet [378] sich Beatrix direct Christo zu und in diesem Blick erscheint sie dem Dichter schöner, als sie gewesen! – Hier geht sie also ganz in die symbolische Bedeutung und Stellung über.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_377.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)