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Mein Blick ihn aushielt, ohne sich zu neigen.

28
So, durch die Blumenflut, die sie umschloß,

Und niederstürzend um und in den Wagen
Sich aus der Himmelsboten Hand ergoß,

31
Sah ich ein Weib in weißem Schleier ragen,[1]

Olivenzweig’ ihr Kranz, und um’s Gewand,
Das Feuer schien, des Mantels Grün geschlagen.

34
Mein Geist, dem schon so manches Jahr entschwand,

Seit er in ihrer Gegenwart mit Beben
Demüth’gen Staunens bange Lust empfand,

37
Fühlt’, eh’ das Aug’ ihm Kunde noch gegeben,

Durch die geheime Kraft, die ihr entquoll,
Die alte Liebe mächtig sich erheben.

40
Kaum war der hohen Kraft die Seele voll,

Der Kraft, durch die, bevor ich noch entgangen
Der Knabenzeit, mein wundes Herz erschwoll,

43
So wandt’ ich links mich hin, mit dem Verlangen,

Mit dem ein Kind zur Mutter läuft und Muth
Im Schrecken sucht und Trost im Leid und Bangen,

46
Um zu Virgil zu sagen: „„Ach mein Blut!

Kein Tröpflein blieb mir, das nicht bebend zücke,
Ich kenne schon die Zeichen alter Glut,““


  1. [31. Beatrix hat sich jetzt erst auf den Wagen niedergelassen. An den Farben ihres Anzuges wird man leicht die drei geistlichen Tugenden von Ges. 29, 122 wiedererkennen, am Oelzweig das Symbol des Friedens und Glaubens, und es ist leicht, die schon mehrfach erwähnte allegorische Bedeutung ihrer Erscheinung hieraus schon zu combiniren. Indessen s. darüber die Vorbemerkung zum nächsten Gesang.
    Hier sei nur auf die andere Seite in der Gestalt der Beatrix auf die unbestreitbare persönliche Grundlage derselben hingewiesen und der Leser aufmerksam gemacht, zu verfolgen, „mit welch’ einziger Genialität und Schönheit die früh heimgegangene Jugendgeliebte und die göttliche Gnade, die von Jugend auf genährte Liebe zu beiden und das Abirren von beiden in der nachfolgenden Darstellung gezeichnet sind.“ Von nun an verläßt sie den Dichter nicht mehr bis vor den Thron Gottes und man fühlt nach der allegorischen Schilderung des 29. Gesanges mit doppelter Befriedigung, wie mit diesem 31. Vers Dante nach langem Weg erreicht hat, was sein glühend Herz begehrte, die Glorien-Erscheinung der Geliebten und wie mit demselben ein neuer Schwung in sein heiliges Lied kommt, der sich durch die folgenden Gesänge auf gleicher Höhe hält und dieselben den poesievollsten des ganzen Werkes zugesellt.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 369. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_369.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)