Seite:Dante - Komödie - Streckfuß - 365.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Von Norden sah er sie, so wie er spricht,
Mit Sturm, mit Wolken und mit Feuer treiben.

103
Wie ich sie fand, beschreibt sie sein Bericht;

Nur stimmt Johannes in der Zahl der Schwingen
Mir völlig bei und dem Propheten nicht.

106
Es stellt’ im Raum sich, den die Thier’ umfingen

Ein Siegeswagen auf zwei Rädern dar,[1]
Deß Seil’ an eines Greifen Halse hingen.[2]

109
Und in die Streifen ging der Flügel Paar,

Die hoch, den mittelsten umschließend, standen,
So, daß kein Streif davon durchschnitten war.

112
Sie hoben sich so hoch, daß sie verschwanden;[3]

Gold schien, so weit er Vogel, jedes Glied,
Wie sich im Andern Weiß und Roth verbanden.

115
Nicht solche Wagen zum Triumph beschied[4]

Rom dem Augustus, noch dem Afrikanen;


  1. 107. Dieser Wagen bedeutet die Kirche; die zwei Räder sind entweder das alte und neue Testament, [oder Liebe und Lehre, welche ihre Stützpunkte sind.]
  2. 108. Der Greif, das Wunderthier der Fabel, das zwei Naturen in sich vereinigt, die des Löwen, des mächtigsten und edelsten der Thiere der Erde, und des Adlers, der sich gen Himmel schwingt und mit ungeblendeten Blicken in die Sonne sieht. Dieser Greif ist hier Christus, welcher allein den Wagen ziehen – welchem folglich Kirche und Papst allein folgen sollen. Seine Flügel, wie die Streifen von den vorausgehenden sieben Lichtern, sich bis in des Himmels fernste, dem Menschenblick unerreichbare Höhe ausstreckend, umschließen den mittelsten jener Streifen, bedecken aber keinen derselben, sondern sind ihrerseits hier und dort von dreien derselben umschlossen. Versteht man unter den sieben Streifen die sieben Sacramente, so ist das Mittelste derselben nach der gewöhnlichen Reihenfolge das Abendmahl, durch welches das tiefste Mysterium und der Mittelpunkt des Christenthums repräsentirt wird.
  3. 112. Der Theil des Greifen, welcher Adler ist (was sich von der Erde emporschwingt, die göttliche Natur) ist golden, die Farbe der Lichtstrahlen; der Löwe hingegen (das an die Erde gebundene Irdische) zeigt sich weiß, in der Farbe der Unschuld, vermischt mit Roth, der Farbe der Liebe, auch hindeutend auf das Blut, das der Mensch Christus aus Liebe vergoß.
  4. 115. Keine weltliche Macht ist so herrlich, wie die der Kirche, wenn sie nichts weiter sein will, als was sie nach Christi Willen sein soll. Aber jener prächtige Wagen wird, wie wir bald sehen werden, zum Ungeheuer, sobald er mit irdischen Schätzen beladen wird.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_365.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)