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Da fühlt’ ein Weib sich, kaum der Ripp’ entsprossen,
Vom Schleier, der ihr Aug’ umzog, verletzt.

28
O hätte sie sich fromm in ihm verschlossen,

Hätt’ ich die überschwänglich große Lust
Wohl früher schon und länger dann genossen!

31
Nachdem ich zweifelnd, meiner kaum bewußt,

In diesen Erstlingswonnen fortgegangen,
Mit Drang nach größern Freuden in der Brust,

34
Da glüht’, als wär’ ein Feuer aufgegangen,

Die Luft im Laubgewölb’ – es scholl ein Ton,
Und deutlich hört’ ich bald, daß Stimmen sangen.

37
Hochheil’ge Jungfrau’n, wenn ich öfter schon[1]

Frost, Hunger, Wachen treu für euch ertragen,
Jetzt treibt der Anlaß mich, jetzt fordr’ ich Lohn.

40
Laßt auf mich her des Pindus Wellen schlagen,

Urania sei meine Helferin,
Was schwer zu denken ist im Lied zu sagen.

43
Ich glaubte sieben Bäume weiterhin

Von Gold zu schau’n, allein vom Schein betrogen
War durch den weiten Zwischenraum mein Sinn;

46
Denn als ich nun so nahe hingezogen,

Daß sich vom Umriß, der den Sinn bethört,[2]
Gestalt und Art durch Ferne nicht entzogen,

49
Da ließ die Kraft, die den Verstand belehrt,

Statt Bäumen sieben Leuchter mich erkennen,[3]


  1. [37. Hier ruft Dante, wie wir mit Philalethes glauben möchten, die Musen –, den Geist der christlichen Dichtkunst an, worauf schon das Wort „hochheil’ge Jungfrauen“ und die Voranstellung der Urania, der Muse der Himmelskunde deutet. – Zu V. 38 vgl. Paradies, 25, V. 3.]
  2. [47. Die bloßen Sinnenkräfte können diese geistigen Dinge nicht fassen. Hier braucht es des erleuchteten Intellects.]
  3. 50. Der Dichter verbindet hier in seiner Vision die sieben Leuchter, welche Johannes im ersten Kap. der Apokal. V. 12 beschreibt, mit den sieben Flammen, von welchen derselbe Kap. 4 V. 5 spricht, welches sind die sieben Geister Gottes. Die Ausleger halten diese sieben Lichter für die sieben Gaben des heiligen Geistes, die, wie V. 73 bis 79 angegeben ist, in den Farben des Mond-Hofes und des Regenbogens (V. 78) bis in den Himmel und so weit strahlen, daß der irdische Blick das Ende des Strahles nicht erreicht. Diese Gaben des heiligen Geistes sind, nach Velutello Demuth (timore), die sich dem [363] Stolz entgegensetzt, Barmherzigkeit (pieta) dem Neide, Wissenschaft (scienzia) dem Zorn, Tapferkeit (fortezza) der Trägheit, Klugheit (consiglio) dem Geize, Weisheit (sapienzia) der Schwelgerei, Vernunft (intelletto) der Wollust. – Mit diesen bringt Velutello dann die sieben Sacramente der katholischen Kirche in Verbindung, welche wegen der unendlichen und unbegreiflichen Wirkungen, die sie im Menschen hervorbringen, die sieben Streifen bilden und weiter in den Himmel hinaufreichen, als der Blick des Dichters.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_362.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)