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88
Ob wenig gleich zu sehn nach außen war,[1]

Doch sah ich durch dies Wenige die Sterne
Weit mehr, als sonst gewöhnlich, groß und klar.

91
Indeß ich staunt’ in unermeßne Ferne,

Befiel mich Schlaf, der öfters uns befällt,
Damit der Geist die Zukunft kennen lerne.

94
Zur Stunde, glaub’ ich, da vom Sternenzelt[2]

Cytherens erster Strahl die Höhe schmückte,
Wie immerdar, von Liebesglut erhellt,

97
Sah ich im Traum, der mich mir selbst entrückte,[3]

Ein schönes junges Weib, das hold bewegt,
Durch Wiesen ging und singend Blumen pflückte.

100
Lea bin ich, dies wisse, wer mich frägt,

Ich liebe, Kränze windend, hier zu wallen,
Und emsig wird die schöne Hand geregt.

103
Ich will, geschmückt, im Spiegel mir gefallen.

Die Schwester Rahel liebt es, stets zu ruhn,
Und läßt dem Spiegel keinen Blick entfallen.

106
Und freut sie sich der schönen Augen nun,

So bin ich froh, mich mit den Händen schmückend,
Denn Schau’n befriedigt sie und mich das Thun.“

109
Des Tages Vorlicht, um so mehr entzückend,[4]

Je mehr des Pilgrims Nachtquartier dem Ort


  1. [88. Nochmals hemmt die Nacht, wie immer, das Steigen. Nochmals müssen sie in der engen Felsentreppe sie abwarten. Aber schon leuchtet der kleine Horizont, welchen die Felsenspalte hat, mit ungewöhnlicher, vielverheißender Klarheit.]
  2. 94. Zur Stunde als Venus, der Morgenstern, aufging.
  3. [97–108. Dieser Traum ist ein Sinnbild dessen, was Dante nun erreicht hat, eine Vorahnung der Vollkommenheit, zu der er nun ganz eingehen soll auf dem Gipfel des Berges. Diese christliche Vollkommenheit besteht für die mittelalterliche Theologie in der Einheit des „thätigen“ und des „beschaulichen Lebens in Gott“, welches daher, das eine in Lea, das andre in Rahel, hier symbolisirt ist. Die Blumen, mit denen Lea sich schmückt, sind gute Werke. Das Ruhen der andern ist die reine Beschaulichkeit. Aber beide schauen in den Spiegel, welcher das Einssein und Leben in Gott bedeutet, die eine im Schmuck ihrer Kränze, die andere mit in sich selbst befriedigter Anschauung. D. h. beide constituiren zusammen den Vollbegriff der christlichen Vollkommenheit nach ihren beiden Seiten.]
  4. 109. Schöne Beziehung auf das Ziel der Reise, welchem der Dichter nahe ist.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_351.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)