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Von Beatricen trennt dich diese Wand!“

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Wie sterbend Pyramus den Blick erschlossen,[1]

Da’s: Thisbe! klang, gekehrt zum theuren Bild,
Als blut’ges Roth die Maulbeer’ übergossen;

40
So kehrt’ ich, nicht mehr hart, nein, sanft und mild,

Zum Führer mich, sobald der Nam’ erschollen,
Der ewig frisch in meinem Herzen quillt.

43
Drob schüttelt’ er das Haupt und sagte: „Sollen[2]

Wir diesseits bleiben?“ lächelnd, denn ich that
Wie Knaben, die, besiegt vom Apfel, wollen.

46
Drauf trat er vor mir in die Flamm’ und bat

Den Statius, uns folgend nachzukommen,
Der uns vorher getrennt den langen Pfad.

49
Ich folgt’ und hätt’, um Kühlung zu bekommen,

Mich in geschmolz’nes Glas gestürzt, so war
Im höchsten Uebermaß die Flamm’ entglommen.

52
Doch bot mir Trost mein süßer Vater dar,

Sprechend von Ihr, und half mir weiter dringen,
Und sprach: „Ich seh im Geist ihr Augenpaar!“

55
Wir hörten jenseits eine Stimme singen,

Und dieser folgten wir, ihr horchend, nach,
Indem wir, wo man stieg, der Flamm’ entgingen.[3]

58
„Gesegnete des Vaters, kommt!“ so sprach

Die Stimm’ aus einem Licht, dort aufgegangen,
Bei dessen Anschau’n mir das Auge brach.

61
„Die Sonne geht, der Abend kommt!“ so klangen

Die Töne fort – „nicht weilt, beeilt den Lauf,
Bevor den Westen dunkles Grau umfangen.“


  1. 37. Pyramus, im Wahn, daß die Geliebte vom Löwen verschlungen sei, durchstieß sich mit seinem Dolche. Aber Thisbe hatte sich gerettet und kehrte zurück als ihr Geliebter im Sterben lag. Beim Laute ihres Namens, den sie verzweifelnd ausrief, öffnete er noch einmal die Augen, um sie für immer zu schließen. Thisbe vereinigte sich durch denselben Dolch, der ihr den Geliebten entrissen hatte, mit ihm auf ewig. Der mit dem Blute bespritzte Maulbeerbaum trug seitdem rothe Früchte.
  2. 43. Virgil schüttelt das Haupt, weil seinen Zögling nur der Lohn antreibt, das zu thun, was die Vernunft verlangt, weil er wie ein Kind ist, dessen Nichtwollen durch die versprochene Frucht besiegt wird.
  3. [57. „Wo man stieg“ „ove si montava“ = wo die Treppe war.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_349.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)