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Ich seh’ Alagna, wo die Lilie weht!
Seh’ im Statthalter Christum selbst gebunden.

88
Seh’ ihn darauf verspottet und geschmäht!

Seh’ ihm auf’s Neue Gall’ und Essig bieten!
Seh’ ihn, der unter Räubern dann vergeht!

91
Den grimmigen Pilatus seh’ ich wüthen,[1]

Seh’ nimmersatt und ohne Freibrief ihn
Brechen mit gier’ger Hand des Tempels Frieden!

94
O Herr des Himmels! Wann wird mir verlieh’n,

Daß ich seh’ freudenvoll die Rache tagen,
Die deine Langmuth ließ bisher verziehn?

97
Du hörtest mich vorhin von Jener sagen,[2]

Die einzig ist des heil’gen Geistes Braut,
Und dies bewog dich, nach dem Grund zu fragen.

100
Von ihr erklingt das Flehen leis und laut[3]

Beim Tageslicht, doch von den Gegensätzen
Tönt uns’re Klage, wenn die Nacht ergraut.

103
Dann denken wir Pygmalions mit Entsetzen,[4]

Der ein Verwandtenmörder ward, ein Dieb
Und ein Verräther aus Begier nach Schätzen;

106
Des Midas auch, deß Elend her sich schrieb[5]

  1. [91 ff. Bezieht sich auf die ungerechte Aufhebung des Templerordens durch Philipp den Schönen 1310 ff. Sie geschah zwar mit päpstlicher Vollmacht, aber nach Dante’s Ansicht einer unrechtmäßig–erschlichenen, daher ungültigen.]
  2. 97. Von Jener, von der Maria. V. 19 ff.
  3. 100–102. Der Dichter bleibt seiner Meinung von der Wirkung des Lichts auch hier treu. Am Tage loben die Schatten die Tugend in Beispielen, welche als Sporn dienen, um die Büßenden vorwärts zu treiben. Aber die Nacht, wo kein Vorschreiten möglich ist, sprechen sie von den Wirkungen des Lasters, um wenigstens nicht rückwärts zu gehen.
  4. 103. Pygmalion tödtete seinen Verwandten Sichäus, um sich seiner Schätze zu bemächtigen. Aen. I.
  5. 106. Midas, ein König von Phrygien, bat den Bacchus um die Gabe, Alles, was er berühre, in Gold zu verwandeln – bald aber um Zurücknahme dieser Huld, da auch Speise und Trank, sobald er sie berührte, sich in jenes reizende Metall verwandelten.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_312.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)