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Sie aber riß das Kleid, das Jene deckte,

Ihr vorn entzwei, daß mir der Leib erschien,
Aus dem Gestank quoll, welcher mich erweckte.

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Ich schlug die Augen auf und sah auf ihn.

„Schon dreimal rief ich dich,“ begann der Weise.
„Auf, laß uns jetzt zur Felsenöffnung ziehn.“

37
Ich richtete mich auf, und alle Kreise

Des heil’gen Bergs erfüllte Morgenpracht,
Und leuchtet’ hinter uns zu unsrer Reise.[1]

40
Ich folgt’ ihm nach, und neigte, ganz erwacht,

Die Stirn, wie Einer, der in schweren Sinnen[2]
Sich selbst zum halben Brückenbogen macht.

43
„Kommt, hier steigt auf!“ So hört’ ich’s nun beginnen,

Mit Tönen, wie sie nie im ird’schen Land
So huldvoll und so süß das Herz gewinnen.

46
Die Flügel, wie des Schwanes, ausgespannt,

Winkt’ uns der Engel vor, und beide gingen
Wir durch des Felsens enge Doppelwand.

49
Er weht’ uns an mit den bewegten Schwingen,[3]

Und sprach: „Heil dem, der stark das Leid erträgt,
Denn reichen Trost wird seine Seel’ erringen.“

52
„Was hast du, das dich immer noch erregt?

Was sinkt verworren noch dein Blick zur Erden?“
So sprach Virgil, als wir uns fortbewegt.

55
„„Ein neu Gesicht – noch seh’ ich die Geberden““ –

Versetzt’ ich, „„macht mich so in Zweifeln gehn!
Noch kann ich dieses Bilds nicht ledig werden.““

58
„Die alte Hexe – hast du sie gesehn,

Ob der man dorten klagt, wohin wir reisen,“


  1. 39. Wenn die Reisenden bald die Morgen- bald die Abendsonne im Gesicht oder im Rücken haben, so wird man sich erinnern, daß sie im Kreise um den Berg gehen – [im Augenblicke wieder südwestlich.]
  2. 41. Auch dies Bild ist sehr plastisch und stellt einen Mann dar, der, tief nachdenkend, mit Kopf und Oberleib vorgebeugt geht. Wenn zwei in gleicher Stellung gegen einander treten, wird ein, wenn auch nicht ganz regelrechter Bogen fertig sein.
  3. 49–51. Auch hier verschwindet wieder ein P von der Stirn des Dichters, da er nun von dem Fehler der Trägheit zum Guten gereinigt ist. Der Engel preist diejenigen glücklich, welche auch durch Leid und Mühe sich im lebendigen Streben nach dem Höchsten nicht stören lassen (Matth. Kap. 7 V. 4.)
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_304.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)