Seite:Dante - Komödie - Streckfuß - 284.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
97
Sie rief: „Willst du den Herrn der Stadt dich nennen,

Ob deren Namen Götter sich gegrollt,[1]
Wo Strahlen jeder Wissenschaft entbrennen,

100
Dann, Pisistrat, zahl’ ihm der Frechheit Sold,

Der’s wagte, deine Tochter zu umfassen!“
Allein der Herr, der liebreich schien und hold,

103
Entgegnet’ ihr, die also rief, gelassen:

„Wird Jener, der uns liebt, von uns verdammt,
Was thun wir dann an solchen, die uns hassen?“

106
Dann sah ich eine Schaar, von Zorn entflammt,[2]

Und einen Jüngling dort, von ihr gesteinigt,
Todt! Todt! so schrie’n sie wüthend allesammt.

109
Er beugte sich, schon bis zum Tod gepeinigt,

Deß Last ihn zu der Erde niederrang,
Doch seinen Blick dem Himmel stets vereinigt,

112
Und fleht empor zu Gott in solchem Drang:

„Vergieb der Wuth, die gegen mich entbrannte!“
Mit einem Blicke, der zum Mitleid zwang.

115
Als meine Seele sich nach außen wandte,[3]

Zurück zu dem, was wahr ist außer ihr,
Und ich nun den nicht falschen Wahn erkannte,

118
Da sprach mein Führer, der, nicht weit von mir,

Mich gleich dem Schläfer, der erwacht, erblickte:
„Nicht halten kannst du dich! Was ist mit dir?

121
Bereits seit einer halben Stunde knickte

Dein Knie, du taumeltest, dein Auge brach,
Als ob dich Schlummer oder Wein bestrickte.“

124
„„O süßer Vater, hörst du’s an““ – dies sprach

Ich drauf zu ihm – „„so will ich dir verkünden,


  1. 98. Neptun und Athene stritten sich, wer der Stadt den Namen geben sollte. Der erstere schenkte deshalb das Pferd, aber die letztere siegte durch das werthvollere Geschenk des Oelbaums.
  2. 106. Die Steinigung des heil. Stephanus.
  3. 115. Was er sah, war zwar ein Traum, aber kein Wahn. In seinem Innern war dem Dichter in voller Wahrheit das schöne Bild der Sanftmuth erschienen. Aber diese innere Beschauung allein bereitet die Förderung nur vor. Vorwärts kommt der Mensch nur, indem er den Geist wieder nach außen wendet. Dazu fordert den Dichter Virgil auf, der wohl erkannt hat, was in ihm vorgegangen ist. (V. 133 ff.)
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_284.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)