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Liebt mehr’re sie, je mehr zu lieben ist,
Denn Eine strahlt den Glanz der andern wieder –

76
Und g’nügt mein Wort dir nicht, in kurzer Frist

Wird dort von dir Beatrix aufgefunden,[1]
Durch welche du dann ganz befriedigt bist.

79
Jetzt sorge nur, daß bald von deinen Wunden[2]

Die fünf sich schließen wie das erste Paar;
Sie schließen sich, wenn du ihr Weh empfunden.“

82
Schon wollt’ ich sagen: Deine Red’ ist klar!

Da war ich an des andern Kreises Saume,
Wo schnell mein Wort gehemmt durch Schaulust war.

85
In einen Tempel schien, von wachem Traume[3]

Dahingerissen, meine Seel’ entflohn,
Und Leute sah ich viel’ in seinem Raume.

88
Am Eingang schien mit süßem Mutterton[4]

Und zärtlicher Geberd’ ein Weib zu sagen:
„Was hast du dies an uns gethan, mein Sohn?

91
Wir suchten dich voll Angst seit dreien Tagen,

Ich und der Vater“ – sprach’s, und wundersam
Schien sie vom Wehn der Luft davongetragen.

94
Drauf vors Gesicht mir eine Zweite kam,[5]

Von Zähren naß, die – wohl war’s zu erkennen –
Dem Aug’ entpreßte zornerzeugter Gram.


  1. [77. Erst im Himmel selbst, durch das Anschauen Gottes (Beatrix) wird der Unterschied zwischen den irdischen Gütern, welche der Mitbesitz verringert, und den himmlischen, die um so reicher machen, je mehr man sie theilt, ganz deutlich werden.]
  2. 79. Die Wunden, die mit dem Schwerte eingeschnittenen P welche die Sünden bedeuten. Sie schließen sich, wenn sie schmerzen d. h. wenn man die Sünden erkennend, Reue und Leid empfindet. [Also zwei sind schon geschlossen, zwei P. verschwunden.]
  3. 85. Hier folgen Bilder der dem Zorn entgegengesetzten Tugend, der liebevollen Gelassenheit bei Anlaß zum Zorn. Daß eben hier die Bilder im Traum erscheinen, deutet wohl auf den unklaren, traumartigen Zustand, in welchen uns der Zorn versetzt.
  4. 88. Maria trifft Christum im Tempel, nachdem sie ihn drei Tage gesucht. Luc. 2 V. 41–49.
  5. 94. Pisistratus, als er sich zum Herrn Athens gemacht, bediente sich der errungenen Gewalt mit äußerster Milde. Ein junger Grieche hatte, nach Valerius Maximus, des Herrschers Tochter öffentlich geküßt. Wie dieser seiner Gemahlin, welche Rache für solche Beleidigung verlangte, widerstand, sagen die folgenden Verse.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_283.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)