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Doch Alle thaten sie sofort desgleichen.

94
„Ohn’ eure Frage will ich euch gestehn,

Noch einem Menschen ist der Körper eigen,
Von welchem ihr das Licht getheilt gesehn.

97
Doch laßt Verwunderung und Staunen schweigen;

Nicht ohne Kraft, die Gott nur geben kann,
Sucht er die schroffe Wand zu übersteigen.“

100
Mein Hort sprach’s, und die würd’ge Schaar begann,

Uns mit der Hände Rücken Zeichen gebend:[1]
„Kehrt wieder um, und schreitet uns voran!“

103
Und einer drauf, zu mir die Stimm’ erhebend:

„Wer du auch seist, blick’ um, mich anzuschau’n,
Besinne dich: Sahst du mich jemals lebend?“

106
Ich wandt’ auf ihn die Augen voll Vertrau’n[WS 2].

Blond war er, schön, von würdigen Geberden,[2]


  1. 101. Dieses Zeichen, bei welchem man den Rücken der Hand dem Andern zukehrt und die Finger von sich selbst abwärts und nach jenem zu bewegt, bedeutet[WS 1], daß der, dem man winkt, nicht weiter vorwärts gehen, sondern umkehren solle. Hier wird von den Seelen dieses Zeichen deswegen gemacht, weil die beiden Dichter, statt sich auf dem eingeschlagenen Wege den Stiegen zu nähern, sich davon entfernt haben würden.
  2. 107 ff. Der hier erscheinende Schatten ist der Hohenstaufe Manfred, der schöne, glänzende und lebenslustige König von Neapel. Von der Kirche immer bekämpft und sie bekämpfend, stürzte er sich, als er die Schlacht bei Benevent, die über sein Reich entscheiden sollte, gegen den von Clemens dem Vierten unterstützen Karl von Anjou verloren sah, den Tod suchend und findend in die Feinde. Sein Leichnam wurde mit zwei tödtlichen Wunden am Haupte und in der Brust aufgefunden. Vergebens baten die französischen Großen ihren Herrn, daß er dem Todten ein ehrenvolles Begräbniß bewilligen möge. Karl blieb selbst gegen den besiegten Feind grausam und schlug es ab, weil, wer im Kirchenbann gestorben, nicht in geweihter Erde ruhen dürfe. So ward er ungeehrt bei der Brücke von Benevent verscharrt. Aber edelmüthiger, als der Führer, war das Heer der Feinde und errichtete ihm ein Ehrendenkmal, indem jeder Soldat auf sein Grab einen Stein trug. Doch auch dieses Grab und dieses Denkmal gönnte ihm die unversöhnliche Kirche nicht. Nicht einmal so viel Erde, als ein Todter zur Ruhestätte braucht, sollte er von seinem Reiche besitzen. So ward sein Leichnam auf Anordnung des Kardinal-Legaten, Erzbischofs von Cosenza, wieder ausgegraben und nach der Gränze von Abruzzo gebracht. Dort in einem vom Verde durchströmten entlegenen Felsthale wurde er verscharrt, mit verlöschten Lichtern, weil beim Begräbnisse eines im Kirchenbann Gestorbenen nicht nur alle kirchlichen Feierlichkeiten unterbleiben, sondern auch der Priester die Lichter auslöscht.
    [217] Constanze, Manfreds Tochter von seiner ersten Gemahlin Beatrix, war mit Peter von Arragonien vermählt, und Mutter Friedrichs und Jacobs’, von welchen V. 116 die Rede ist. Dante soll sie, wie Manfred bittet, wenn dort behauptet werde, er sei, als im Kirchenbann verstorben, verdammt, eines Bessern belehren, aber auch sie bitten, daß sie für ihn flehen möge, damit er zeitiger zur Läuterung zugelassen werde. Denn am Fuße des Berges und vor der Pforte des Fegefeuers, zu welcher wir im neunten Gesange gelangen, müssen nicht nur die Gebannten, sondern auch diejenigen, welche zu spät ihre Sünden bereut und sich zu Gott gekehrt haben, so lange harren, bis die bestimmte Zeit verflossen ist, wenn nicht frommes Flehen diese Zeit abkürzt. – [Die V. 139 ausgesprochene Doctrin, nach welcher Jeder dreißigmal so lange, als er im Kirchenbann gelebt, vor der Pforte des Reinigungsortes warten müsse, ist freie Erfindung des Dichters.]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: beduetet
  2. Vorlage: Vetrau’n
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_216.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)