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Die Schaar, gewiß, das Ufer zu erreichen,
Fing diesen Psalm einstimm’gen Sanges an.

49
Er macht’ auf sie des heil’gen Kreuzes Zeichen,[1]

Drauf warf sich jeder hin am Meeresbord,
Dann sah man ihn schnell, wie er kam, entweichen.

52
Fremd schienen Alle, welche blieben, dort,

Und um sich blickend sah ich sie verweilen,
Wie den, der Neues sieht am fremden Ort.

55
Von allen Seiten schoß mit Feuerpfeilen

Den Tag die Sonne, die vom Meridian[2]
Den Steinbock schon gezwungen, zu enteilen.

58
Da hoben, die wir eben kommen sahn,

Nach uns die Stirn empor mit diesem Worte:
„Zeigt uns, dafern ihr könnt, zum Berg die Bahn.“[3]

61
Erwidert ward darauf von meinem Horte:

„Wißt, wenn ihr wähnt, wir wüßten hier Bescheid,
Wir sind so fremd, wie ihr, an diesem Orte.

64
Denn kurz vorher, eh’ ihr gekommen seid,

Sind auf so rauhem Weg wir angekommen,
Daß hier zu klimmen Spiel, nicht Müh’ und Leid.“

67
Wie Jene nun am Athmen wahrgenommen,

Daß ich noch lebe, schienen sie bewegt,
Ja vor Erstaunen ängstlich und beklommen.

70
Und wie dem Boten, der den Oelzweig trägt,[4]

  1. 49. Der christliche Glaube und die christliche Sittenlehre sind es, die uns am sichersten zur moralischen Freiheit leiten. Auf sie verweiset der Engel die Seelen, indem er auf sie das Zeichen des Kreuzes macht.
  2. 56. Der Steinbock ist vom Widder 90 Grade westlich entfernt, und steht also, wenn die Sonne im letztern aufgeht, beim Aufgange derselben in der Mittagshöhe.
  3. 60. Wir haben im zweiten Gesange der Hölle gesehen, daß der Dichter nur zögernd und zweifelnd auf Virgils Zureden sich entschloß, die verhängnißvolle Reise zu unternehmen und sich zuvörderst die Erkenntniß der Sünde zu verschaffen. Im zehnten Verse dieses Gesanges zeigt sich bei Dante und Virgil gleiche Unschlüssigkeit, denn die Vernunft selbst findet es schwerer, sich von der Sünde zu läutern, als sie zu erkennen. Gleiche Ungewißheit zeigen nun die eben ankommenden Seelen bei der Neuheit des Zustandes, in welchem sie sich befinden.
  4. 70. Noch zu Dante’s Zeiten sollen die Friedensboten nach alter [210] Sitte mit dem Oelzweige in der Hand erschienen sein. An Gelegenheit, dergleichen Boten zu sehen, konnte es dem Volke damals nicht fehlen.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_209.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)