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Das Fegefeuer.
[Abfassungszeit: ca. 1308–1316 od. 1318.]
_____


Erster Gesang.[1]
Eingang. Cato von Thorn. Waschung und Gürtung. Einlaß.


1
Zur Fahrt durch bessre Fluren aufgezogen

Hat seine Segel meines Geistes Kahn,
Und läßt nun hinter sich so grimme Wogen.

4
Zum zweiten Reiche geht des Sanges Bahn,

Wohin zur Reinigung die Geister schweben;
Um würdig dann dem Himmelreich zu nah’n.


  1. [Vorbemerkung. Der Leser betrachte in der Kürze den weiteren Fortgang der ganzen Dichtung. Indem Dante mit Virgil die Hölle durchwanderte, hat er zwar nebenbei ein Weltgericht über seine Zeit in speciell politischer wie in allgemeiner Beziehung gehalten; vor allem aber hat er als Typus der sündigen Menschheit überhaupt an sich selber die Grade der Buße und Sündenerkenntniß durchgemacht, er ist sittlich gefördert und kann nun zur Läuterung und Sündenablegung fortschreiten. Diese letztere nun eben ist im „Fegefeuer“ „il Purgatorio“ dargestellt und man kann leicht verfolgen, wie auch in diesem zweiten Theile des Gedichtes der dreifache Sinn liegt, vermöge dessen wir S. 6 f. die göttl. Kom. als ein Selbsterlebniß Dante’s, als eine Allegorie des menschlichen Heilsweges überhaupt und endlich auch als eine specielle, politisch gefärbte Zeitdichtung bezeichnet haben. Naturgemäß treten die politischen Beziehungen durchs Fegefeuer nicht so oft im Einzelnen hervor, als im Inferno. Aber sie liegen zu Grunde. Denn Virgil geht immer noch mit; und das will ja nichts anderes heißen, als daß er noch unentbehrlich sei, d. h., daß nur eine auf Vernunft und rechte politische Verfassung, selbstständiges Zusammenwirken von Kirche und Staat – gegründete Weltordnung dem Menschen auf Erden den rechten Weg der Wahrheit und sittlichen Freiheit zeige, Ges. 27, 127–142 (s. dort.) beziehungsweise ihn zur rechten Benutzung der kirchlichen Gnadenschätze leite, durch die er allein die volle Freiheit und Reinheit zu gewinnen vermag, Ges. 9, 73 ff. Was die Oertlichkeit betrifft, so denkt sich Dante das Fegefeuer als einen Berg, von dessen Lage und Entstehung am Schluß der Hölle schon Bericht gegeben worden ist. Dieser Berg ist wie ein umgekehrter Höllentrichter, hat Terrassen, die durch Felsenstiegen miteinander verbunden sind und büßenden Seelen zum Aufenthalt dienen, unter welch letztern wir den Dichter sich stets als Mitbüßenden [201] einreihen sehen. Es sind wieder drei Abtheilungen, welche drei innerliche Hauptstufen der Läuterung repräsentiren. Nämlich: das Vorfegefeuer für solche, welche als „Säumige“ im Leben erst im letzten Augenblick zwar noch Buße gethan, aber ebendeßwegen auch hier erst zur weiteren Läuterung angetrieben werden müssen; sodann die sieben Kreise, entsprechend den sieben Todsünden; endlich das irdische Paradies auf der Höhe des Berges, welches den Stand christlicher Vollendung, die Vorstufe zur himmlischen Verklärung, zum dritten Theil der göttlichen Komödie, darstellt. Ueber die zweite Abtheilung im Einzelnen werden wir in Ges. 17 Weiteres hören und betreten nun sofort mit dem zweiten Gesang das Vorfegefeuer. Im Ueberigen muß der Herausgeber, was eine nähere, aber immerhin noch bündige Vorerörterung über das Purgatorium, seine ganze innere Entwickelung im Einzelnen etc. betrifft, auf seine schon erwähnte Einleitungsschrift: „Dante’s göttl. Kom. etc. Stuttgart, Conradi (früher Kirn)“ verweisen, wo der Leser auch eine genaue Gesammtübersicht des zweiten, sowie des dritten Theils der göttl. Komödie des Paradieses, findet. Daß die Dichtung nun Licht und Leben, nicht mehr Tod und Elend der Sünde, singt, fühlen wir sofort beim ersten Verse. Dieser gleich im Anfange so wohlthuend berührende und durch’s ganze „Fegfeuer“ sich hindurchziehende Gegensatz zur Hölle macht diesen Theil der göttl. Kom. nicht weniger poetisch anziehend, als der erste ist. Dort epischer Fluß und grandiose Gewalt der Darstellung; hier lyrische Anmuth, ruhige Klarheit der Schilderung, Hervortreten des subjectiven Gefühls, so daß Dante in der einen, wie in der anderen Dichtungsgattung sich als Meister zeigt.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_-_200.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2019)