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nichts mehr als dass er einst zum „Schauen von Angesicht zu Angesicht“ kommen werde.

Doch die Kunst begleitet auch die Religion, indem das menschliche Innere, durch den Kampf mit dem Objecte bereichert, bald wieder in einem Genius zu neuer Gestaltung ausbricht und das seitherige Object durch frische Bildung verschönert und verklärt. Schwerlich vergeht ein Menschenalter ohne eine solche, der Kunst zu dankende Verklärung. Endlich aber steht die Kunst auch am Ende einer Religion. Heiteren Muthes nimmt sie ihr Gebilde wieder in Anspruch, und als das ihrige es behauptend raubt sie ihm die Objectivität, erlöst es aus der Jenseitigkeit, in welche es die Zeit der Religion hindurch verfallen war, und verschönert es nicht mehr bloss, sondern vernichtet es gänzlich. Ihr Geschöpf, die Religion, zurückfordernd erscheint die Kunst beim Untergange einer Religion, und indem sie tändelnd die ganze Ernsthaftigkeit des alten Glaubens darum, weil er den Ernst des Inhalts, den er an den fröhlichen Dichter zurückgeben musste, eingebüsst hat, als eine lachende Komödie aufstellt, hat sie sich selbst und damit neue Schöpfungskraft wiedergefunden. Denn — erlassen wir ihr den Vorwurf ihrer Grausamkeit nicht! — so grausam als sie in der Komödie vernichtet, so unerbittlich stellt sie wieder her, was sie von neuem zu vernichten gedenkt. Sie schafft ein neues Ideal, ein neues Object und eine neue Religion. Die Kunst kommt nicht darüber hinaus, wieder Religion zu machen, und Raphaels Christusbilder verklären den Christus dergestalt, dass er die Basis einer neuen Religion, der Religion des „von allen Menschensatzungen geläuterten“ biblischen Christus wird. Von frischem beginnt der Verstand seine unermüdliche Reflexionsthätigkeit, indem er auf und über das neue Object so lange reflectirt, bis er es durch immer tieferes Verständniss ganz inne geworden ist: mit der hingebendsten Liebe versenkt er sich in dasselbe und lauscht seinen Offenbarungen

Empfohlene Zitierweise:
Max Stirner: Kunst und Religion aus Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. Berlin 1914, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_266.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)