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so lange dauert, bis vom unverwandten, gierigen Auge das Ideal wieder eingesogen und verschlungen worden, heisst Religion. Darum, weil sie ein Anblicken ist, bedarf sie eines Gegenstandes oder Objectes, und der Mensch verhält sich als Religiöser zu dem durch die Kunstschöpfung hinausgeworfenen Ideal, zu seinem zweiten, äusserlich gewordenen Ich, als zu einem Objecte. Hier liegen alle Qualen, alle Kämpfe von Jahrtausenden; denn fürchterlich ist es, ausser sich zu sein, und ausser sich ist Jeder, der sich selbst zum Objecte hat, ohne diess Object ganz mit sich vereinigen und als Object, als Gegen- und Widerstand vernichten zu können. Die religiöse Welt lebt in den Freuden und Leiden, die sie von diesem Objecte erfährt, sie lebt in der Entzweiung ihrer selbst, und ihr geistiges Dasein ist nicht ein vernünftiges, sondern ein verständiges. Die Religion ist eine Verstandes-Sache! So hart, als das Object, das kein Frommer ganz für sich gewinnen kann, dem er sich vielmehr unterwerfen muss, so spröde ist auch sein eigener Geist, diesem Objekte gegenüber: er ist Verstand. „Kalter Verstand!?“ — So kennt ihr nichts als jenen „kalten“ Verstand? wisst nicht, dass nichts so glühend heiss, so heldenmüthig ist, als der Verstand? Censeo, Carthaginem esse delendam sprach Cato’s Verstand und er blieb unverrückt dabei; die Erde bewegt sich um die Sonne, sprach Galilei’s Verstand, selbst während der schwache Greis knieend die Wahrheit abschwur, und als er aufstand, sagte er wieder: „Und sie bewegt sich doch um die Sonne“. Keine Gewalt ist gross genug, uns den Gedanken zu verrücken, dass 2 mal 2 = 4 ist, und des Verstandes ewiges Wort bleibt diess: „Hier steh’ ich, ich kann nicht anders!“ Und die Sache eines solchen Verstandes, der nur unerschütterlich ist, weil sein Object (2 mal 2 = 4 u. s. w.) sich nicht erschüttern lässt, die Sache eines solchen Verstandes sollte die Religion sein? Ja, sie ist es. Auch sie hat ein unerschütterliches Object, dem sie verfallen ist:

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Max Stirner: Kunst und Religion aus Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. Berlin 1914, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_260.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)