Seite:DE Stirner Schriften 140.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

von großer Unkenntniß der Geschichte und noch größerer Unfähigkeit eines unbefangenen Nachdenkens. Daß unsere Staaten nicht christliche seien, dies darzuthun ist zwar keine schwere, wohl aber eine umfangreiche Aufgabe, die zur Zerstreuung des Vorurtheils in Bälde gelöst werden muß; daß sie es nicht sein können, läßt sich sehr bald einsehen. Hier, wo uns ein beliebiges Schalten mit dem Raume nicht gestattet ist, nur wenige kurze Andeutungen. Es scheint so klar zu sein, daß, da wir Christen sind, auch unser Staat ein Werk des Christenthums sei, und doch ist er es eben so wenig als die von Christen ausgebildete Naturwissenschaft eine christliche Naturwissenschaft oder die von christlichen Deutschen so reich entwickelte Philosophie eine christliche Philosophie ist. Der Staat ruht vielmehr auf dem Princip der „Bildung, der Civilisation“. Der Staat ruht auf dem Princip der „Weltlichkeit“, das Christenthum auf dem des „Himmelreichs“ („Mein Reich ist nicht von dieser Welt“). Gegen Alles, was im Staate von großer Bedeutung ist, verhält sich das Christenthum völlig gleichgültig; ihm erscheint Alles unwesentlich, selbst die Freiheit. – Von der Höhe der „Freiheit der Kinder Gottes“ schaut der Christ mitleidig auf jede andere Freiheit, als auf eine „äußere“ herab. Ob Fürst oder Lump, Herr oder Knecht, Frei oder Sklave, arm oder reich, roh oder gebildet etc., das berührt den Christen nicht. Eine Ohrfeige, dem Grafen oder dem Bettler gegeben, wird nicht als verschiedene Injurie bestraft: der Graf wie der Bettler müssen die andere Backe anbieten. Das Weltliche soll den Christen keine Sorge machen, er soll sich nur so weit damit abgeben, als die unvermeidliche Noth ihn dazu treibt. Auf die Bildung aber, auf die Schule sind alle unsere gegenwärtigen Verhältnisse, unser gesammtes Staatsleben gegründet, und das falsche Axiom muß sich in folgendes umwandeln: „Unsere europäischen Staaten haben sämmtlich die Bildung zur Grundlage.“

Empfohlene Zitierweise:
Max Stirner: Max Stirner's Kleinere Schriften und Entgegnungen. , Berlin 1914, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Stirner_Schriften_140.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)