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Neuen sehr zu schaden; wenigstens so lange das Neue selbst nicht stark genug ist, die Praktiker mit ihren morschen Vorstellungen über den Haufen zu werfen.

Als die Eisenbahnzeit über Europa kam, gab es Praktiker, welche den Bau gewisser Linien für thöricht erklärten, „weil dort nicht einmal die Postkutsche genug Passagiere habe“. Man wusste damals die Wahrheit noch nicht, die uns heute als eine kindlich einfache vorkommt: dass nicht die Reisenden die Bahn hervorrufen, sondern umgekehrt die Bahn die Reisenden hervorruft, wobei freilich das schlummernde Bedürfnis vorausgesetzt werden muss.

In die Kategorie solcher voreisenbahnlicher „praktischer“ Bedenken wird es gehören, wenn Manche sich nicht vorstellen können, wie in dem neuen, erst noch zu gewinnenden, erst noch zu cultivirenden Lande der wirthschaftliche Verkehr der Ankömmlinge beschaffen sein soll. Ein Praktiker wird also beiläufig Folgendes sagen:

„Zugegeben, dass die jetzigen Zustände der Juden an vielen Orten unhaltbar sind und immer schlechter werden müssen; zugegeben, dass die Auswanderungslust entsteht; zugegeben sogar, dass die Juden nach dem neuen Lande wandern, wie und was werden sie dort verdienen? Wovon werden sie leben? Der Verkehr vieler Menschen lässt sich doch nicht künstlich von einem Tag auf den andern einrichten.“

Darauf ist meine Antwort: Von der künstlichen Einrichtung eines Verkehrs ist gar nicht die Rede, und am allerwenigsten soll das von einem Tag auf den anderen gemacht werden. Wenn man aber den Verkehr auch nicht einzurichten vermag, anregen kann man ihn. Wodurch? Durch das Organ eines Bedürfnisses. Das Bedürfniss will erkannt, das Organ will geschaffen werden, der Verkehr macht sich dann von selbst.

Ist das Bedürfniss der Juden, in bessere Zustände zu gelangen, ein wahres, tiefes; ist das zu schaffende Organ dieses Bedürfnisses, die Jewish Company, hinreichend mächtig: so muss der Verkehr im neuen Lande sich in Fülle einstellen. Das liegt freilich in der Zukunft, wie die Entwicklung des Bahnverkehrs für die Menschen der Dreissiger Jahre in der Zukunft lag. Die Eisenbahnen wurden dennoch gebaut. Man ist glücklicherweise über die Bedenken von Praktikern der Postkutsche hinweggegangen.



Empfohlene Zitierweise:
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_30.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2018)