Seite:DE Herzl Judenstaat 23.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

weil wir im capitalistischen wie im socialistischen Lager auf den exponirtesten Punkten stehen.


Bisherige Versuche der Lösung.

Die künstlichen Mittel, die man bisher zur Ueberwindung des Judennothstandes aufwandte, waren entweder zu kleinlich – wie die verschiedenen Colonisirungen – oder falsch gedacht, wie die Versuche, die Juden in ihrer jetzigen Heimat zu Bauern zu machen.

Was ist denn damit gethan, wenn man ein paar tausend Juden in eine andere Gegend bringt? Entweder sie gedeihen, und dann entsteht mit ihrem Vermögen der Antisemitismus – oder sie gehen gleich zu Grunde. Mit den bisherigen Versuchen der Ableitung armer Juden nach anderen Ländern haben wir uns schon vorhin beschäftigt. Die Ableitung ist jedenfalls ungenügend und zwecklos, wenn nicht geradezu zweckwidrig. Die Lösung wird dadurch nur vertagt, verschleppt und vielleicht sogar erschwert.

Wer aber die Juden zu Ackerbauern machen will, der ist in einem wunderlichen Irrthume begriffen. Der Bauer ist nämlich eine historische Kategorie und man erkennt das am besten an seiner Tracht, die in den meisten Ländern Jahrhunderte alt ist, sowie an seinen Werkgeräthschaften, die genau dieselben sind, wie zu Urväterzeiten. Sein Pflug ist noch so, er sät aus der Schürze, mäht mit der geschichtlichen Sense und drischt mit dem Flegel. Wir wissen aber, dass es jetzt für all’ das Maschinen gibt. Die Agrarfrage ist auch nur eine Maschinenfrage. Amerika muss über Europa siegen, sowie der Grossgrundbesitz den kleinen vertilgt.

Der Bauer ist also eine auf den Aussterbeetat gesetzte Figur. Wenn man den Bauer künstlich conservirt, so geschieht es wegen der politischen Interessen, denen er zu dienen hat. Neue Bauern nach dem alten Recept machen zu wollen, ist ein unmögliches und thörichtes Beginnen. Niemand ist reich oder stark genug, die Cultur gewaltsam zurückzuschrauben. Schon das Erhalten veralteter Culturzustände ist eine ungeheuere Aufgabe, für die alle Machtmittel selbst des autokratisch geleiteten Staates kaum ausreichen.


Empfohlene Zitierweise:
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_23.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)