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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

II. Beobachtungen, welche sich unmittelbar aus der Untersuchung des körperlichen und geistigen Zustandes des Inquisiten, und unabhängig von dessen eigenen Aeusserungen, ergeben haben.

Der Inquisit hat das Ansehen eines Mannes von 40 Jahren und ist von mittler Statur, kräftigem, gedrungnem und völlig regelmäßigen Körperbau, mittelmäßig genährt und von ziemlich starkem Bart und Haarwuchs. Der Kopf steht in richtigem Verhältniß zu dem übrigen Körper und ist von keiner ungewöhnlichen Form auch ohne Narben und andere Spuren erlittener Gewaltthätigkeiten. Während der ersten Minuten, nachdem er vorgeführt worden war, zitterte er gemeiniglich am ganzen Körper, so daß er selbst den Kopf nicht still zu halten vermögend war, und sein Puls- und Herzschlag war in diesem Zustande sehr beschleunigt und verstärkt, sobald er sich aber etwas beruhigt hatte, ließ das Zittern nach, und ich fand Puls- und Herzschlag natürlich, ingleichen das Athemholen frei und gleichförmig. Man bemerkt keinen üblen Geruch aus dem Munde, die Zunge ist ohne Beleg, obgleich von Tobak, den er zu kauen pflegt, etwas braun gefärbt, der Leib nicht aufgetrieben oder gespannt, und die Eingeweide desselben, so viel sich durch äußere Untersuchung erkennen läßt, von natürlicher Lage und Größe und ohne Spuren von Verhärtungen und andern organischen Fehlern. Die Haut ist von natürlicher und gleichförmiger Wärme, ohne Spur von Krätze, Flechten und andern Ausschlägen, auch bemerkt man bei Untersuchung derselben keine Krampfadern, Drüsenanschwellungen, Narben, oder venerische Merkmale, ausgenommen, daß der Kopf des rechten Nebenhoden sich etwas dicker und härter anfühlt, als gewöhnlich. Sein Auge ist nicht sonderlich belebt, aber von natürlichem Glanz und sein Blick fest, ernst, ruhig, und besonnen, keinesweges wild, frech, verstört, unstät oder zerstreut, aber auch eben so wenig traurig, niedergeschlagen, verlegen, gedankenlos oder erloschen. Das Gesicht ist blaß aber nicht eingefallen, die Lippen roth, die Züge ziemlich tief gefurcht, aber weder ungewöhnlich gespannt, noch erschlafft. Seine Miene hat nichts Tückisches, Lauerndes, Abstossendes oder Zurückschreckendes und kündigt weder Furcht und Kummer, noch Unwillen und verhaltenen Zorn, überhaupt nichts Leidenschaftliches an, auch bleibt sich dieselbe fast immer gleich, und nur einigemale bemerkte ich, bei Erzählungen aus seinen Jugendjahren, wie sich ein schnellvorübergehendes Lächeln über dieselbe verbreitete, welches aber nichts Unangenehmes, Bitteres, Höhnisches oder Grinsendes hatte. Die Haltung und Stellung des Körpers ist zwar etwas nachläßig, aber nicht schlaff, der Gang und die übrigen Bewegungen sind rasch und lebhaft. Seine Sprache ist stark und vernehmlich, auch gehörig articulirt und betont, nicht affectuirt, nicht polternd oder schleppend, seine Art sich auszudrücken kurz, bestimmt, treffend, ohne Abschweifungen und Wiederholungen. In seinen

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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_546.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)