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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

1) daß an demselben während seiner mehr als dreijährigen Gefangenschaft, während welcher er a) von dem Prediger der Gefangenen, dem Bruder des Vertheidigers, unabläßig scharf beobachtet worden ist, b) die Einflüsse der heftigsten Gemüthsbewegungen erfahren hat, c) einem ungewöhnlich heißen Sommer und einem eben so ungewöhnlich harten Winter ausgesetzt gewesen ist, endlich auch d) durch den Einfluß des Gefängnißes anderweitigen Nachtheil an seiner Gesundheit (scorbutische Beschaffenheit des Zahnfleisches) erfahren hat, dennoch nicht die geringste Spur von seinen angeblichen Visionen hat bemerkt werden können.

2) Daß er mit der größten Gleichgültigkeit sich bis zum letzten Tage mit Fertigung von Papparbeiten beschäftiget, die Vertheilung der ihm in diesem Tage zugekommenen Almosen an seine Verwandte, an seine frühere Geliebte, an das mit dieser erzeugte Kind und an dessen Lehrer angeordnet, den bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen Religionsübungen sich gern, aber ohne sonderliche Rührung, unterzogen, ein von ihm selbst aufgesetztes Gebet, um es auf dem Schaffot laut zu halten, noch am Morgen der Hinrichtung auswendig gelernt, aber auch unmittelbar vor dem Anfang des hochnothpeinlichen Halsgerichts noch einmal zu frühstücken verlangt, eine Gänsekeule mit gutem Appetit, doch mit der Aeußerung, daß ihm die Bißen etwas gros würden, verzehrt und das Blutgerüst mit einer Fassung bestiegen hat, als stiege er in einen Reisewagen. Den Schlüssel hierzu giebt theils sein unbedingter Glaube, daß seine Seele geradenweges in das Paradies gelange, von dem er sich eine sehr materielle Vorstellung machte, theils auch wohl seine bis zum lezten Augenblick genährte Hoffnung auf Begnadigung, weshalb er auch das gedachte Gebet, welches er laut und mit sehr lebhaften Gestikulationen verrichtete, absichtlich zu verlängern schien. Uebrigens kam auch wohl soldatisches Ehrgefühl, Todesverachtung und – – Eitelkeit bei seinem ganzen Benehmen mit ins Spiel. – –

Bei der auf dem anatomischen Theater von dem Prosector D. Bock unternommenen Section fanden sich alle Organe in der Kopf-, Brust- und Unterleibshöhle in vollkommen gesundem Zustande und nur das Herz mit einer ganz ungewöhnlichen Menge von Fett umgeben. Beim Fallen des Hauptes bemerkte man einen sehr schwachen Sprung des Blutes aus den Halsschlagadern, vielleicht eine Folge der durch die Falllage verminderten Propulsionskraft des Herzens. Ich erinnere mich in den Zeitungen gelesen zu haben, daß bei der Hinrichtung von Sand, der bekanntlich ein Empyem hatte, etwas ähnliches bemerkt worden ist.


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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_537.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)