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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

Die gegen vorstehendes in der am 7. Jan. 1823 eingereichten dritten Verteidigungsschrift erhobenen Einwendungen wurden in dem am 4. Oct. d. J. eingegangenen Urtheil des hiesigen Schöppenstuhls als unzureichend erkannt[1], die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten als vollständig erwiesen dargestellt, und die Einholung eines Gutachtens der medizinischen Fakultät unter diesen Umständen für unnöthig erachtet.

Nachdem in Folge dieses der Vertheidiger unter nochmaliger Berufung auf landesherrliche Gnade gegen die zuerkannte Todesstrafe, seine Gründe für die Befragung einer Medicinalbehörde nochmals dringend vorgestellt und unter andern bemerklich gemacht hatte, daß, da der Physikus aus eigenem Antriebe auf die Bestätigung seiner Ansicht durch die medicinische Fakultät angetragen habe, dieses Gutachten selbst nicht eher als völlig geschlossen betrachtet werden könne, bis diese Bestätigung erfolgt sey; so wurde in dem hierauf erlassenen Rescripte vom 23sten Jan, 1824 zwar der Berufung auf Gnade Statt zu geben Bedenken gefunden, jedoch »In Betracht des von dem Stadtphysikus Hofrath Dr. Cl..... geäußerten Wunsches, daß wegen der ungewöhnlichen Schwierigkeit, Vielseitigkeit und Wichtigkeit des von ihm beurtheilten Gegenstandes über die von ihm aufgestellte Ansicht ein Responsum der gedachten Fakultät eingeholt werden möchte, für angemessen erachtet, das Gutachten derselben über den vorliegenden Fall annoch zu vernehmen.«

Mittlerweile wurde (14. Feb.) auf des Vertheidigers Antrag von dem Stadt- und Landgericht zu Stralsund über Woyzecks Vernehmen allda Erkundigungen eingezogen. Aus der Befragung von sechs Personen, unter denen sich sein Hauswirth, die erwähnte Wienbergin, sein ehemaliger Feldwebel und mehrere Kameraden befanden, ergab sich, daß Woyzeck beim Regimente den Namen Wutzig und einen falschen Vornamen geführt, dem Trunk sehr ergeben, auch einmal, wegen eines


  1. Obgleich die von dem Vertheidiger gegen meine Ansichten erhobenen Zweifel, nach meiner aufrichtigsten Ueberzeugung, selbige zu erschüttern auf keine Weise vermögen und also ihren Zweck für den gegenwärtigen Fall verfehlt haben, so sind einige seiner Bemerkungen dennoch geeignet, zu sehr wichtigen Erörterungen zu führen. Dahin gehört besonders die Frage: ob es rathsam sey, bei Untersuchung zweifelhafter Seelenzustände mehrere Sachverständige zu hören, und in welchen Fällen die Einholung eines Gutachtens der medicinischen Fakultät, in sofern sie nicht bereits durch die Gesetze bestimmt ist (s. Gener. v. 29. Jul. 1750, 30. Apr. 1783. §. 3, 18. Jan. 1791. §. 23, 8. Apr. 1797) notwendig sey. Ohne mich hier auf die sehr weit führende Beantwortung dieser Frage einzulassen, die ich mir, so weit sie aus meinem Gesichtspunkte möglich ist, für eine andere Zeit vorbehalte, kann ich doch nicht umhin, meine, auf vieljährige Beschäftigung mit gerichtsärztlichen Arbeiten aller Art und auf Bekanntschaft mit fremden Arbeiten gegründete Meinung vorläufig dahin zu äussern, daß es im Allgemeinen gewiß nicht wohl gethan seyn würde, den Gerichten und Spruchcollegien, durch allzubestimmte Vorschriften die Hände zu binden, sondern daß Umsicht, Erfahrung, Kenntniß der Sache, der Personen, der bereits vorliegenden Arbeiten u. s. w. meistens am sichersten bestimmen werden, was in einzelnen Fällen das rathsamste ist.
Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_535.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)