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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

haben, und sogar gegenwärtig von ihm eingestanden worden sind. Gesetzt also auch, daß man, bei seiner nun erfolgten Sinnesänderung, auf jenen anfänglichen Mangel an Reue, der mit seiner anfänglichen Todesverachtung gleichen Ursprung gehabt und gleichen Schritt gehalten hat, bei Beurtheilung der Handlung Rücksicht nehmen wollte, so würde dieses dennoch eher dazu dienen, die Strafbarkeit der Handlung zu vermehren, als sie zu vermindern, da ein Verbrecher für um so gefährlicher gehalten werden muß, je mehr er gegen Folgen des Unrechts gleichgültig geworden ist, und je weniger er durch Strafen von Begehung ähnlichen Unrechts abgeschreckt, d. h. in gesetzlichen und moralischen Schranken gehalten werden kann. (Vergl. Hofbauer a.a.Orte S. 342. 349).

ad d) ist zu bemerken, daß sich Woyzeck in dem Verhör am 4. Juni 1821 aller Vorfälle des Tags, an dem die That geschehen, so weit er darüber befragt worden ist, sehr umständlich erinnert und sogar Personen namhaft gemacht hat, die er bei seinem Herumlaufen gelegenheitlich habe sprechen wollen, wobei es um so weniger wahrscheinlich ist, daß er so specielle Umstände blos aus Angst, um nur etwas zu antworten, solle ersonnen haben, da er übrigens während der ganzen Untersuchung nicht ein einzigesmal gelogen und nie hartnäckig geläugnet hat. Uebrigens sind es auch nur Nebenumstände, deren er sich in den spätern Verhören nicht mehr erinnert, wogegen ihm die Hauptumstände, z. B. daß er die Woostin am Morgen dieses Tags aufgesucht und dabei einen falschen Vorwand gebraucht, daß er den Dolch in der Absicht zu morden abgeholt, daß er und wo er der Woostin begegnet, welchen Weg er mit ihr genommen und wo und auf welche Weise er die Mordthat vollführt habe u. s. w. noch völlig gegenwärtig sind. Nun ist es aber eine allgemein bekannte psychologische Erfahrung, daß Vorfälle, die das Gemüth heftig erschüttern, sich auch des Gedächtnisses auf eine so ausschließende Art bemächtigen, daß sie in der Erinnerung ganz isolirt dastehen und das Andenken an die vorhergegangenen Nebenumstände je länger, je mehr schwächen und verdunkeln. Hierin findet daher auch Woyzecks Vergessen mehrerer Nebenumstände des verhängnißvollen Tages eine genügende Erklärung, auf jedem Fall aber kann dasselbe bei seinem übrigens sehr treuen Gedächtniß nicht als Symptom einer Seelenstörung überhaupt, und, bei dem gänzlichen Mangel aller andern Beweise, nicht als ein Beleg für das Daseyn eines blinden, instinktartigen Antriebes zu Morden angesehen werden.

Endlich kommt auch noch der Umstand hinzu, daß Woyzeck sich bei mehrerer Ruhe, als er beim Verhör gehabt haben kann, mehrerer sehr specieller Umstände von jenem Tage erinnerte, die er damals nicht namhaft gemacht hat, z. B. daß er bei Herrn Lacarriere gewesen, von ihm Almosen empfangen, was er auf dem Wege mit der Woostin gedacht und was sie zuletzt zu ihm gesagt habe.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_531.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)