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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

verleitet hat und von Millionen vernünftiger Menschen noch jetzt keinen Augenblick bezweifelt wird. – So erzählt, um von unzähligen, der Sache näher liegenden Beispielen nur einige zu erwähnen, Sauvages Nosologia methodica, T. IV. p. 241. 271. das Beispiel eines Bauers, der bei einer Krankheit der innern Theile des Auges fortwährend eine Fliege vor seinen Augen zu sehen glaubte, ohne sich überzeugen zu können, daß es nur Täuschung sey, und es wird dabei sehr richtig bemerkt, daß dergleichen Täuschungen um so leichter für etwas wirkliches gehalten werden, je geringer die Geistesbildung solcher Personen ist.

Derselbe Schriftsteller erzählt von einem Flötenspieler, der neben dem von ihm geblasenen Ton, jedesmal noch einen ganz verschiedenen zu hören glaubte, weil er an Blutandrang nach dem einen Ohre litt und mithin auf beiden Ohren verschieden hörte. So kommen schon im gemeinen Leben häufig Beispiele vor, daß Personen, die an Blutandrang oder an Blähungen und andern Unterleibsbeschwerden leiden, allerhand Töne, Musik, Glockengeläute, entfernte Stimmen, das Rufen ihres Namens u. dergl. zu vernehmen glauben. Ich kann auf Eid und Pflicht versichern, daß ich vor mehreren Jahren von einem auswärtigen, geistreichen Schriftsteller persönlich um Rath gefragt worden bin, der unaufhörlich des Nachts und am Tage von verborgenen, bald nähern, bald entferntern Stimmen verfolgt wurde, die ihn bald bei Namen riefen, bald schlüpften, bald sich lustig über ihn machten, und der in diesem Zustande, ob er sich gleich von der Nichtexistenz einer objektiven Ursache derselben zuweilen schwer, oder gar nicht überzeugen konnte, dennoch unausgesetzt, in seinem Amte und als Schriftsteller, von seinem Verstande einen sehr ausgezeichneten Gebrauch machte und durch den Gebrauch des Karlsbades von seinem Uebel befreit wurde. – Ein zweites Beispiel solcher Beunruhigung durch entfernte Stimmen ohne die mindeste Störung aller übrigen Geistesfunktionen habe ich erst im verflossenen Sommer am hiesigen Orte beobachtet[1].

Hierzu kommt noch, daß

d) Sinnestäuschungen und namentlich die Einbildung, ohne objektive Veranlassung Töne und Stimmen zu vernehmen, wenn sie sich zu irgend einer Seelenkrankheit, sie sey nun Wahnsinn oder Narrheit, Tollheit, Melancholie u. s. w. gesellten, niemals isolirt erscheinen, sondern jedesmal mit andern allgemeinen Symptomen einer Seelenstörung verbunden sind, die nach Maaßgabe der speziellen Form der Krankheit, verschiedene Farben und Schattirungen annehmen. Zu diesen allgemeinen Symptomen gehören: ein ungewöhnliches, auffallendes und


  1. Anm. des Verf. Dieselben Beobachtungen an sich selbst gemacht zu haben, versicherte mir, nach Lesung dieser Schrift, einer der berühmtesten Schauspieler Deutschlands, den ich im Spätsommer 1824 während seines Gastspiels in Leipzig an den heftigsten Convulsionen, die aus hämorrhoidalischen Ursachen entstanden waren, behandelte.
Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_526.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)