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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

eine solche reizbare Gemüthsstimmung wenigstens in sofern die Schuld eines in diesem Zustand begangenen Verbrechens vermindere, als es einem Menschen, der sich in demselben befindet, schwerer werden muß, gegebenen Anreizungen zu widerstehen, so müßte ich allerdings es richterlichem Ermessen anheimstellen, zu entscheiden, ob Temperamentsfehler, wie dieser, nicht blos die moralische, sondern die legale Schuld eines Vergehens vermindern, weil über die Schuld überhaupt, so wie über das Mehr oder Weniger derselben, und insbesondere der moralischen, dem gerichtlichen Arzt kein Urtheil zustehet, am wenigsten, wenn er nicht ausdrücklich darum gefragt wird, zugleich aber vom gerichtlich-medizinischen Standpunkt aus erinnern, daß hier nicht von der Leichtigkeit oder Schwierigkeit, sondern von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit leidenschaftlichen Antrieben zu widerstehen, die Rede sey. Erst da, wo diese Möglichkeit aufhört, ist die Grenze der Zurechnungsfähigkeit, welche die gerichtliche Medicin festhalten muß, wenn sie sich nicht in endlose Verwirrungen verlieren und zum Deckmantel aller und jeder Verbrechen herabgewürdigt werden soll. Um aber annehmen zu können, daß ein Mensch, bei Begehung eines Verbrechens, jenseits dieser Grenze gestanden habe, muß erwiesen werden, entweder, daß sich vor, bei oder nach der That in dem Erkenntniß- und Urteilsvermögen, in den Reden und Handlungen desselben, Abweichungen vom gesunden Seelenzustande überhaupt offenbart haben, oder daß derselbe, ohne durch die gewöhnlichen, leidenschaftlichen Motive angereizt worden zu seyn, nach einem ungewöhnlichen, blinden und instinktartigen Antriebe gehandelt habe. Daß weder das Eine noch das Andere bei Woyzeck der Fall gewesen sey, wird sich aus dem Folgenden näher ergeben und ich bemerke daher hier blos vorläufig, um der Vermuthung zu begegnen, als ob diese körperliche Anlage und reizbare Gemüthsstimmung dennoch vielleicht gerade in diesem individuellen Falle die Möglichkeit, mit Willensfreiheit zu handeln, aufgehoben haben könne, daß es dem Inquisiten mit derselben Willensfreiheit, mit der er wenige Augenblicke nach der That den Selbstmord unterließ, weil zu viele Leute in der Nähe waren, auch möglich gewesen seyn würde, die That selbst zu unterlassen.

ad c) Sinnestäuschungen und Verwechslung subjektiver Empfindungen mit objektiven Vorstellungen selbst bei gesundem und noch viel öfter bei krankhaftem Zustande der Sinnesorgane und der mit denselben in Beziehung stehenden Organe und Systeme, besonders des Verdauungs-, des blutführenden und des Nervensystems sehr häufig vorkommen, und zu falschen Urtheilen und Schlüssen, zu Irrthümern und Vorurtheilen Gelegenheit geben, ohne im Uebrigen dem freien Vernunftgebrauch Eintrag zu thun. Es ist kaum nöthig zu erinnern, daß zwischen Irrthum und Vorurtheil und zwischen krankhafter Störung des freien Vernunftgebrauches ein sehr großer Unterschied sey. Allerdings

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_524.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)