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Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821].
In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte, Hamburg 1967.

Das gleichgültige, kalte, rauhe und verwilderte Wesen, das ich früher an ihm beobachtete, hat sich verloren. Er hat Zeit und Aufforderung gefunden, einen ernsthaften Blick in sein Inneres, auf Vergangenheit und Zukunft zu werfen; die Reue ist in ihm erwacht und mit ihr die Liebe zum Leben. Er scheut sich nicht mehr, zu gestehen, daß er den Tod durch Henkers Hand fürchte, und daß er einen mildern Urtheilsspruch wünsche, so wie sein ganzes Benehmen zeigt, daß er einige Hoffnung dazu nährt. Daher scheinen die psychologischen Erscheinungen, über die er bereits vor Gericht ausführlich befragt worden ist, und deren Beziehung auf den Ausgang seines Schicksals er ahndet, jetzt den Hauptgegenstand seines Sinnens und Denkens auszumachen. Ganz unaufgefordert fing er, schon während ich die vorläufigen nöthigen Fragen über den gegenwärtigen Zustand seiner körperlichen Gesundheit an ihn richtete, davon zu sprechen an, und suchte angelegentlich immer von Neuem darauf zurückzukommen. Als ich nun, dem mir entworfenen Plane gemäß, wirklich auf diesen Hauptgegenstand der Untersuchung näher einging, war er unerschöpflich in seinen Erzählungen und Erläuterungen, und es drängte ihn sichtbar, sich ausführlich darüber mitzutheilen, um nichts zu übergehen, was ihm zur Sache zu gehören schien.

Auf Befragen, warum er mir von allen diesen Dingen nicht schon bei der ersten Untersuchung erzählt und auf eine Menge dahin führender Fragen geschwiegen habe, erwiderte er: Er sey damals noch desperat gewesen, weil er kein Zutrauen zu den Menschen gehabt und geglaubt habe, daß er von ihnen verfolgt werde. – Es sey ihm gleichgültig gewesen, wie es ginge. – Er wisse nicht, ob er sich vielleicht geschämt habe. – Er habe gedacht: wozu solle das viele Schreiben. – Er habe mir auch für die Mühe noch nicht gedankt, die ich mir damals mit ihm gegeben und wolle es nunmehr thun etc. Ob ich nun gleich in seinen Aeußerungen durchaus kein Bestreben wahrnahm, mich durch offenbare und geflissentliche Unwahrheiten zu täuschen, gegen welche ich ihn wiederholt dringend warnete, so bemerkte ich doch sehr deutlich, daß er sich von Zeit zu Zeit durch seine Einbildungskraft fortreißen ließ, die Begebenheiten auszumalen, oder ihnen willkürliche Beziehungen unterzulegen, und daß er sich bei fortgesetztem Nachgrübeln über diese Vorfälle, aufgeregt durch den schwachen Schimmer der auf sie gebauten Hoffnung, und verleitet durch die ihm ohnehin anhängenden Vorurtheile über die Bedeutung der Träume, über Geistererscheinungen u. s. w. (S. u.) von Selbsttäuschung nicht völlig frei erhalten hatte.

Nach diesen vorläufigen Erörterungen über den gegenwärtigen körperlichen und geistigen Zustand des Inquisiten, die als das Resultat meiner sämmtlichen Unterredungen mit ihm zu betrachten sind, und

Empfohlene Zitierweise:
Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck [1821]. In: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe (Hamburger Ausgabe), Hrsg. von Werner R. Lehmann, 1. Band: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Clarus-Gutachten_506.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)