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Mutter und die Freunde zu seinen Füssen überträgt. Aber man darf über dem Gott nicht den Menschen in seinem bittersten Leiden vergessen. Am wenigsten ziemt dem Heiland am Kreuz eine stolze und verachtende Miene. Auf der andern Seite aber darf auch der Ausdruck des körperlichen Leidens nicht über die oben bezeichneten Momente hinausgehen, und namentlich soll im Tode und im Antlitz des Gestorbenen nicht mehr der Kampf und Schmerz, sondern der Frieden und die Verklärung ausgedrückt werden.

Während der Kreuzigung bilden sich um das Kreuz dreierlei Gruppen, die Angehörigen und Jünger Jesu, die ihm das letzte Geleit geben und um ihn trauern; die Pharisäer und Schriftgelehrten nebst allerlei Pöbel, die ihn verhöhnen; endlich die römische Wache, die sich gleichgültig verhält wie bei einer gewöhnlichen Hinrichtung, um den Rock des Gekreuzigten würfelt etc., unter der aber doch ein Hauptmann tief ergriffen wird, und ausruft: „Fürwahr, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Die erste Gruppe sammelt sich auf den Kirchenbildern gewöhnlich zunächst am Kreuzesstamme, und zwar steht die Mutter rechts, der Evangelist Johannes links (wie später beim Weltgericht Maria rechts, der Täufer Johannes links). In der Mitte kniet Magdalena und umfasst, in Thränen zerfliessend, den Stamm des Kreuzes (wie sie einst des Heilands Füsse mit köstlichem Balsam wusch). Maria, die hier gewöhnlich als ältere Matrone in blauem Kleide mit weissem Wittwenschleier gemalt wird, sinkt auf vielen Bildern in ähnlicher Weise wie Magdalena hin, von Schmerz überwältigt oder in besinnungsloser Ohnmacht. Das ziemt ihr aber nicht. Würdiger sind die Bilder, die sie, wenn auch im tiefsten Seelenschmerz, doch standhaft darstellen, nach dem herrlichen Hymnus Stabat mater dolorosa und nicht jacebat. Das Schwert des Schmerzes, das durch ihre Seele geht, wird auf älteren Bildern als wirkliches Schwert gemalt, eine fromme Naivetät, die einem falschen oder schwächlichen Seelenausdruck vorzuziehen ist.

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Erster Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_I_523.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)