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Ehebrecherin vor Christo.

Man hält bekanntlich diese ganze Erzählung im Evangelium Johannis 8. für einen spätern Zusatz, weil sie in den ältesten und besten Handschriften fehlt und auch innere Gründe für die Unechtheit sprechen. Sie hat gleichwohl einen schönen Sinn. Die Pharisäer wollten dem Heiland einen Fallstrick legen, indem sie ihm die Ehebrecherin zuführten. Hätte er sie verdammt, so würden sie gesagt haben, er mische sich unbefugt in Gerichtssachen. Hätte er sie freigesprochen, so würden sie ihn einen Prediger der Unsittlichkeit genannt haben. Christus aber antwortete nichts, sondern schrieb etwas mit dem Finger in den Staub des Bodens hin. Dann erhob er sich wieder und sagte: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der hebe den ersten Stein wider sie auf.“ Die Pharisäer schlichen sich nun beschämt davon (wahrscheinlich lasen sie in dem, was Christus auf den Boden geschrieben, ihre eigene Sünde). Das Weib blieb allein zurück. „Hat dich Jemand verdammt?" frug Christus. „Nein,“ antwortete sie. „Nun,“ fuhr er fort, „so verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!“ – Dieser Schluss rettet den sittlichen Ernst der Handlung, der sonst zu fehlen scheinen würde. Es ist nicht zu leugnen, dass eine laxe Observanz aus diesem Capitel der Bibel nur allzu viel Trost schöpft.

Die Ehebrecherin vor Christo ist ein in der Malerei sehr beliebter Gegenstand, sey es wegen des Trostes, den man daraus schöpfte, sey es wegen der reizenden Contraste, die er darbietet, die affectirte Sittenstrenge und rigoristische Miene der innerlich schlechten Pharisäer, die Demuth und Scham der Sünderin, die, öffentlich angeklagt, doch immer noch unschuldiger ist, als ihre Ankläger, endlich die Reinheit und über all diesem irdischen Treiben hocherhabene Heiligkeit des Erlösers. Noch einen weiteren Contrast suchte Titian in seinem berühmten Bilde, indem er der Ehebrecherin ein

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Wolfgang Menzel: Christliche Symbolik. Erster Theil. G. Joseph Manz, Regensburg 1854, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Christliche_Symbolik_(Menzel)_I_226.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)