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daß man es nicht in Nebensächlichem und Unbedeutendem vergeude.


Der Schaffende soll kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber von vornherein als Ausnahme betrachten. Er müßte für seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes Gesetz suchen, formen und es nach der ersten vollkommenen Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem nächsten Werke in Wiederholungen zu verfallen.

Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.[1]

Die Schaffenskraft ist umso erkennbarer, je unabhängiger sie von Überlieferungen sich zu machen vermag. Aber die Absichtlichkeit im Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffenskraft vortäuschen, noch weniger erzeugen.

Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Vollendung. Und indem er diese mit seiner Individualität in Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.


Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik„amte“ wird sie beansprucht. Daß Routine in der Musik überhaupt existieren und daß sie überdies zu einer vom Musiker geforderten Bedingung gemacht werden kann, beweist aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Routine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle.

  1. Der einem nachgeht, überholt ihn nicht, soll Michelangelo gesagt haben. Und über die nützliche Anwendung der „Kopien“ äußert sich noch viel drastischer ein italienischer Spruch.