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hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante, seinen Durchführungen und Kodas.

Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Aufgabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier-Sonate[WS 1]. Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen. Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D-Moll-Sinfonie[WS 2] –, und Gleiches kann man von Brahms und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie[WS 3] behaupten.

Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.

Neben Beethoven ist Bach der „Ur-Musik“ am verwandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem (dem Architektonisch Entgegenstehenden), von Eingebungen, die man „Mensch und Natur“ überschreiben möchte;[1] bei

  1. Seine Passions-Rezitative haben das „Menschlich-Redende“, nicht „Richtig-Deklamierte“.

  1. Ludwig van Beethoven, Klaviersonate op.106 B-Dur (1817-1818), 4. Satz Largo – Allegro risoluto, Fuga a tre voci, con alcune licenze
  2. Robert Schumann, Sinfonie Nr.4 d-moll op.120, (1. Fassung 1841, 2. Fassung 1851). Die Überleitung im Finalsatz weicht in den beiden Fassungen voneinander ab. 1.Fassung: Moderato – Allegro vivace; 2. Fassung: Langsam – Lebhaft.
  3. Johannes Brahms, Symphonie Nr.1 op.68 c-moll (1876), 1. Satz: Un poco sostenuto – Allegro.