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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime

der hatte vor sich auf dem Pferde ein Mädchen sitzen. »Da kommt er schon!« rief die Prinzessin und wurde blaß wie der Tod; »da kommt er schon, das ist sein Pferd; wenn er uns hier findet, so ist uns der Tod gewiß!« Und schnell sprangen die beiden Mädchen die Treppe hinab und wollten aus dem Hause hinaus, aber in demselben Augenblicke ritt auch der Mörder schon auf den Hof; da blieb den beiden nichts anderes übrig als sich in den dunkeln Entenstall zu verstecken, der an der Diele unter der Treppe lag und mit einer Gitterthüre verschlossen war. Kaum waren sie drin, so kam der Graf mit einem wunderschönen Mädchen in das Haus. Er holte ihr aus dem Keller ein Glas Wein und gab ihr davon zu trinken und sprach: »Nun, mein Kind, wie schmeckt dir dieser Wein?« »Sehr süß!« sagte das Mädchen. »Ja!« sprach der Graf, »sehr süß! aber süßer ist das Leben!« Dann brachte er ihr ein ander Glas und ließ sie wieder trinken und fragte: »Nun, mein Kind, wie schmeckt dir denn dieser Wein?« »Sehr bitter!« sagte das Mädchen. »Ja, sehr bitter!« sprach der Graf; »aber bitterer ist der Tod; du mußt jetzt sterben!« Da mußte sie sich ganz nackt ausziehen; und ob sie gleich laut weinte und jammerte und vor dem Bösewicht auf ihre Knie fiel und um ihr Leben flehte, so half es ihr doch alles nichts; er schleppte sie an den Klotz, er hob das weiße Laken, er hackte ihr mit dem blanken Beile alle ihre schönen Finger ab. Auf dem einen Finger steckte aber ein schöner Goldring, und es traf sich, daß der Finger von dem Hiebe bei Seite sprang und sprang durch die Gitterthüre in den Entenstall und der Prinzessin grade in den Schooß. Da fing der Mörder nach dem Finger zu suchen an, des Ringes wegen, und kam mehrmals dicht vor den Entenstall. Den beiden Mädchen, die darin versteckt saßen, stockte das Blut; sie hielten den Athem an; hätten sie den geringsten Laut von sich gegeben, so wären sie verloren gewesen. Zum Glück gab der Mörder sein Suchen auf und ging wieder zu dem unglücklichen Mädchen zurück, das weinte und jammerte laut und bat um sein Leben; aber es half ihr alles nichts; der Bösewicht hackte ihr Arme und Beine ab und zuletzt den Kopf und trug die Stücke in den Keller und salzte sie ein. Darauf setzte er sich wieder auf sein Pferd, das vor der Thüre angebunden stand, und ritt fort.

Als nun die Prinzessin und ihre Jungfer vernahmen, daß der Graf fort war, kamen sie aus ihrem Versteck hervor und sahen ihm nach; da war er schon wieder weit hinten auf der Haide. Den Finger mit dem Goldringe wickelte die Prinzessin in ihr Taschentuch, und nun liefen sie eilig aus dem Hause; der große Hund schlug dreimal an: »Hau! Hau! Hau!« der Vogel schrie; sie liefen über die Haide in den Wald, sie stürzten sich in den Wagen, sie befahlen dem Kutscher auf die Pferde zu schlagen; so jagten sie in einem fort bis auf den königlichen Hof; da brachen die Pferde todt zusammen.

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Wilhelm Busch: Ut ôler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime. München: Lothar Joachim, 1910, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Busch_Ut_oler_Welt_108.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)