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werden, als wenn man sie im Gewande der alten darstellt. Wenn Gunkel aber eine solche Annahme für unverträglich mit der Psychologie eines Apokalyptikers erklärt, so wird es sich auch hier empfehlen, keine allzu apriorischen Behauptungen aufzustellen. Überdies kann als möglich zugestanden werden, daß unser Apok. hier allerdings ein schon vorgefundenes und bereits umgeprägtes Bild einfach herübergenommen habe. Aber selbst, wenn das nicht der Fall wäre, so ist die Annahme einer direkten Herübernahme eines heidnischen Mythus nicht ganz unmöglich. Es wird also D. zugestanden werden müssen, daß er in der Tat eine Möglichkeit des Verständnisses von Apk 12 aufgedeckt hat, wenn es sich freilich bei der weiten Verbreitung des Drachenmythus, für die wir sogleich noch einen Beleg finden werden, empfiehlt, mit der Annahme einer direkten Entlehnung vorsichtig zu sein.

Wir überschauen aber das zur Beurteilung von Apk 12 in Betracht kommende Material noch nicht völlig, wenn wir nicht zum Schluß noch einen Blick auf die ägyptische Mythologie werfen. Denn in dieser finden sich Parallelen, die genau so überraschend sind wie diejenigen im Apollomythus. Das Weib, die Mutter des Kindes, ist hier die große Göttermutter Hathor (resp. Isis), das Kind der junge Sonnengott Horus (Harpokrates), der Drache Typhon. Hathor findet sich (Brugsch, Relig. u. Mythol. der Ägypter 211) dargestellt mit einer Sonne auf dem Haupt. Horus, das Kind, heißt der schöne Knabe (a. a. O. 356), sein Geburtsfest wird am Frühlingsanfang gefeiert. Typhon (Seth) wird unter verschiedenen Symbolen dargestellt, die bevorzugten Symbole für ihn sind der Drache, die Schlange, das Krokodil (709). In der ägyptischen Pistis Sophia ist der Drache, der die Sophia verfolgt, siebenköpfig (s. o.). Das Weib sammelt, nachdem Osiris (die alternde Sonne) von Seth erschlagen ist[1], von Typhon verfolgt, seine Gebeine und gebiert auf wunderbare Weise das Kind, den jungen Sonnengott. Dann entflieht sie auf einem Nachen von Papyrus, durchschifft die Sümpfe und rettet sich auf die sagenhafte schwimmende Insel Chemmis (400f.). Nach einer andern Variante gebiert sie erst dort den jungen Horus (403. 405, vgl. auch die vermenschlichte Isis-Osiris-Legende, in der Osiris König, Horus der junge Königssohn geworden ist, 643). Vor allem möge hier eine Stelle aus einem Osiris-Hymnus zitiert werden (398):

Sie (Isis) macht Luft mit ihren Federn
Und erzeugt Wind mit ihren Flügeln[2].
Sie jubiliert, ist ihr Bruder gelandet,
Sie stellt die regungslosen Glieder des Toten zusammen,
Sie saugt seine Feuchtigkeit auf
Und bildet einen Sprößling.
Sie nährt das Kind in der Einsamkeit,
Und niemand weiß, wo es weilt und wohin sie geht.


  1. Von hier aus könnte man die Frage Gunkels 386 beantworten, wo Apk 12,1 der Vater des Kindes gedacht werde.
  2. Dazu vgl. die Flügel des großen Adlers 12,14; der heilige Vogel der Hathor-Nechbit war der Geier (322 s. die Abbildung).
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1906, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S354.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)