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wir von diesem größeren Zusammenhang noch einmal auf Apok. 11 zurückgreifen, so sehen wir nun deutlicher, wie hier durch Amalgamierung der Weissagung vom Erbfeind mit einer auf die bestimmte Situation der Belagerung Jerusalems gehenden Apokalypse der Sinn jener ein wenig verschoben ist. Während das Charakteristische der verwandten Apokalypsen (Himmelf. Mosis; II Th; Mt 24; Mk 13) das Hervorgehen jener Gestalt aus dem Judentum, oder wenigstens deren enger Zusammenhang mit diesem ist, ist dieser Zug hier verwischt. Zwar steht das Tier zu Jerusalem in enger Beziehung, aber Jerusalem ist hier die von Heiden beherrschte und zertretene Stadt, und der Antichrist steht wenigstens in der gegenwärtigen Gestalt der Apk in besondrer Beziehung zu den Völkern. Ebenso bleibt es undeutlich, wer die siebentausend Personen sind, die im Erdbeben umkommen, ob Juden oder Heiden. Die Notiz, daß die „Übrigen“, die nicht im Erdbeben umkamen, Gott die Ehre gaben (V. 13), deutet darauf hin, daß in der zu Grunde liegenden Apk. in erster Linie an Juden gedacht war. In ihr war das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt, ein jüdischer (oder halbjüdischer) Herrscher, dessen Herrschaft sich freilich über die ganze Welt erstreckt, dessen Anhänger aber in erster Linie auch abtrünnige Juden sind.

So hätten wir also eine dreifache Stufe in der Entwickelung der Weissagung von Kap. 11 zu unterscheiden. Zu Grunde liegt dem Stücke eine ältere jüdische Weissagung von dem in Jerusalem seine Herrschaft aufrichtenden widergöttlichen Herrscher der Endzeit. Diese zeitlose Zukunftsweissagung wurde in der Zeit der Belagerung Jerusalems mit einer Apokalypse von höchst aktueller Bedeutung verbunden. So fand unser Apok. das Stück vor, versah es mit einer Einleitung, brach den Schluß ab und stellte es zwischen die sechste und siebente Posaune, indem er hier und da geringfügige Zusätze machte.

Es erübrigt noch, die Frage zu erheben, was sich denn der Apok. letzter Hand bei seiner Weissagung gedacht habe. Mit Bestimmtheit wird sich das allerdings kaum ausmachen lassen. Jedenfalls wird er in V. 1 und 2, falls er überhaupt über deren Bedeutung nachdachte, eine Weissagung von der Zerstörung Jerusalems gesehen haben. Während er hier also rückwärtsblickend ein bereits erfülltes Vatizinium seiner Meinung nach brachte, muß er dann im Folgenden auch seinerseits eine reine Zukunftsweissagung gesehen haben. Vor dem Erscheinen des Messias, auf das er mit seinen Weissagungen abzielt, stellt er die Erscheinung der beiden Vorläufer. Ob er seinerseits das Tier aus dem Abgrund mit dem Tier in Kap. 13 und 17, also mit Nero redivivus, identifiziert hat? Es wird sich schwerlich mehr ausmachen lassen. Und auch die Frage, wie sich der Apok. zusammengereimt hat, daß nach der Weissagung von Jerusalems Fall V. 1-2 doch im Folgenden das Bestehen der großen Stadt vorausgesetzt wird, entzieht sich einer abschließenden Erörterung. Dachte er vielleicht an einen Wiederaufbau Jerusalems, oder hielt er die μεγάλη πόλις nicht für Jerusalem? Oder hat er über diese Dinge gar nicht nachgedacht?

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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. , Göttingen 1906, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S330.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)