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arbeitender, künstlerischer Reflexion. Von der Johannesapokalypse als einem Ganzen gilt sicher, daß sie gedichtet und nicht geschaut, daß sie ein literarisches Kunstwerk und nicht das Tagebuch eines Visionärs ist. Mit diesem Urteil ist nun aber wieder nicht gegeben, daß hinter einzelnen Gesichten der Apokalypse nicht unmittelbare Erfahrung stände, sei es, daß der Verfasser der Apokalypse selbst einzelne wirkliche Gesichte älterer Propheten in sein Kunstwerk verwoben, sei es, daß er einmal wirklich erlebte Visionen aufgenommen hat.

Übrigens muß betont werden, daß bei der Abschätzung des wirklichen religiösen Wertes und Gehaltes einer Apokalypse es nicht auf die Frage ankommt, ob in ihr wirkliche visionäre Erfahrung vorliege, oder ob die berichtete Vision nur der literarischen Kunstform angehört. Es kommt auf den Inhalt der religiösen Überzeugung an und nicht auf die Form ihrer Vermittelung. Und dieser innere Gehalt verliert an Großartigkeit, Schwung und Kraft nichts, mag man die Frage so oder so entscheiden. Daß aber ein religiöser Schriftsteller sich einer hergebrachten literarischen Form bedient, um seine Gedanken wirkungsvoll für die Masse zu gestalten, daran könnte nur ein Fanatiker der Wahrhaftigkeit des Buchstabens Anstoß nehmen.

Mit der eben berührten Pseudonymität der apokalyptischen Literatur hängt die vielfach obwaltende Manier zusammen, mit der hier schon geschehene Ereignisse in der fingierten Form der Zukunftsweissagungen als vaticinia ex eventu vorgetragen werden. Da der Apokalyptiker fast ausnahmslos im Namen einer Persönlichkeit einer weit entfernten Vergangenheit redet, so liegt der Gedanke sehr nahe, diese Situation auszunutzen, vom Standpunkte der Vergangenheit aus zu weissagen und durch die Menge bereits erfüllter Weissagungen die Zuverlässigkeit der wenigen noch ausstehenden Weissagungen zu garantieren. Man wird aber doch gut tun, die Absicht und Meinung des Apokalyptikers nicht gar zu mechanisch aufzufassen. Freilich ist z. B. in der Tiervision des Henochbuches diese Art der Weissagung von einem fingierten Standpunkt aus zu einer reinen Farce geworden. Aber oft liegt bei diesem Verfahren doch auch wirklich der Versuch einer Erfassung geschichtlicher Zusammenhänge im größeren Stil vor, so namentlich im Danielbuch. Hier wird (in Kap. 2 und 7) dem Apokalyptiker das vaticinium ex eventu oder der Rückblick in die Vergangenheit ein Mittel, um den Zusammenhang, in welchem seine Gegenwart innerhalb des großen göttlichen Weltenplanes steht, zu erfassen und zu bestimmen. Die Apokalyptik erhebt sich hier zu den ersten Ansätzen einer geschichtlichen Theodicee. Die alte heilige Weissagung von den vier Weltreichen wendet der Apokalyptiker auf die ihm bekannte Geschichte an und bestimmt den Ort, an dem sich seine Zeit und sein Geschlecht befindet. Die Geschichte wird ihm zu einem Zeugnis von der Einheit einer über ihr waltenden göttlichen Absicht, von einem heiligen Willen Gottes, der die Not auf Erden größer und größer werden läßt, bis es endlich heißt: wo die Not am größten, ist Gottes siegende, helfende, heilende, richtende Gegenwart am nächsten.


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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S016.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)