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Hier muß nun übrigens betont werden, daß gerade an diesem wichtigen Punkte die Johannesapokalypse eine Ausnahmestellung einnimmt. Es bleibt allerdings die Frage, ob die Weissagungen der Apokalypse von dem sich als ihren Träger nennenden Johannes selbst geschrieben oder nur auf seinem Namen geschrieben seien, oder ob eine vermittelnde Hypothese hier ihr Recht habe. Aber eines ist sicher: als Zeuge der Apokalypse gibt sich ein Mann der unmittelbaren oder eben verflossenen Gegenwart. Dasselbe wird zum Schluß im direkten Gegensatz gegen den hergebrachten apokalyptischen Stil hier gesagt: „Versiegele die prophetische Worte dieser Bücher nicht. Denn die Zeit ist nahe!“ 22,10. Ihrer Form nach gibt sich die Apokalypse nicht als Buchweisheit, sondern als gegenwärtige Offenbarung. Auch pulsiert in ihr ungebrochenes prophetisches Bewußtsein (vgl. den Abschnitt V). Die Apokalypse ist geschrieben in einer Zeit, wo man wieder im frohen Bewußtsein lebte, den Geist zu besitzen; den Geist Gottes, der zu den Propheten redet. Und einer abgeschlossenen Offenbarung des alten Testaments ist man im Begriff eine neue Offenbarung zur Seite zu stellen. — Das ganze Bedenken, das sich gegen die jüdische Apokalyptik in dieser Frage und an diesem Punkte erhebt, fällt für die neutestamentliche Apokalypse fort.

Dennoch wird sich die Frage weder hier noch dort schwerlich entscheiden lassen. Oft wird das Urteil bei den einzelnen Stücken desselben Buches schwanken. Ich halte es nicht für unmöglich, daß ein Teil der Gesichte im Danielbuch wirklich geschaut sind; aber daß der kleine Abriß der Geschichte in den letzten Kapiteln des Buches der Studierzelle und nicht im Traum eines Visionärs entstammt, dürfte auf der anderen Seite klar sein. Unmittelbare Erfahrung scheint in dem Traumgesicht Henochs k. 83-84 nachzuzittern, aber der ledernen Tiervision k. 85ff. würde man zu viel Ehre antun, wenn man sie – wenigstens dem größten Umfang nach – für mehr nehmen wollte als das müßige Hirngespinst eines Literaten.

Im übrigen wird man bei der Beurteilung dieser Frage auch von dem Satz auszugehen haben, daß sich die Annahme einer wirklichen visionären Erfahrung am leichtesten da halten lassen wird, wo wir kleine einzelne Visionen, abgerundete, leicht behaltbare Bilder haben. Der Prophet sieht (u. s. w.) einen Korb voller Herbstfrüchte und hört die Deutung: der Herbst kommt: das ist eine Vision. Je kleiner, abgerundeter, in sich einheitlicher das Bild, desto wahrscheinlicher die Unmittelbarkeit der Erfahrung. Je größer, umfangreicher, komplizierter, je künstlicher komponiert eine Apokalypse ist, desto mehr erhalten wir den Eindruck einer rein literarischen Produktion. In diesem Punkt steht nun gerade die neutestamentliche Apokalypse auf dem äußersten Punkt der Entwicklung zur literarischen apokalyptischen Kunstform. Keine Schrift des genus, zu dem die Johannesapokalypse gehört, zeigt auch nur annähernd eine so künstliche Komposition wie diese. In keiner Schrift sind die einzelnen Visionen und Visionenreihen so künstlich mit einander verwoben, daß keine fast sich aus dem Ganzen herausnehmen läßt, ohne dieses zu schädigen. Nirgends so wie hier haben wir den Eindruck bis ins einzelne berechnender, in taghellem Bewußtsein

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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite 015. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S015.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)