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vorsichtig mit der Annahme sein, als wären sie nun wirklich direkt aus der buchstabenmäßigen Auslegung genommen. Es wird sich im einzelnen Fall immer noch fragen, ob hier eine Auslegung oder nur eine Einlegung stattgefunden hat. Der Apokalyptiker Daniel leitet seine Weissagung von den siebenzig Jahrwochen aus Jeremias ab, aber sehr wahrscheinlich ist es, daß er die Idee eines Verlaufes der Weltgeschichte in 70 Wochen einer alten mythischen Tradition[1] entnimmt und sie erst in Jeremias hineingelesen hat. — Hier auf diesem ganzen Gebiet hat also die religionsgeschichtliche Erklärung ihr eigentliches Feld und ihre große Bedeutung.

Es ist übrigens noch zu betonen, daß nicht nur die eine Gruppe allegorischer Zukunftsvisionen mit einem derartigen weitschichtigen Material der Überlieferung arbeitet, sondern daß auch die einfach beschreibenden Visionen eine Menge fremdartigen Stoffes in sich aufnehmen. Nicht, daß der einzelne Apokalyptiker etwa bewußt bei dieser Aufnahme verführe. Aber in den volkstümlichen Vorstellungen von den Räumen des Himmels und seinen Bewohnern, von Gottes Thron, von den Toten- und Gerichtsorten, von den sonstigen geheimnisvollen Orten der Erde, von rätselhaften Naturvorgängen, von der himmlischen Stadt (dem himmlischen Jerusalem) und anderem mehr lagert unkontrolliert Altes neben Neuem, Einheimisches neben Fremdem. Der Apokalyptiker übernimmt diese Vorstellungen als bare Münze ohne jegliche Kritik. Es wäre auch hier nichts verkehrter als dieses ganze Folklore, das hier vorliegt, um jeden Preis auf das alte Testament zurückzuführen. Wir haben es hier im Gegenteil mit Vorstellungen zu tun, die ihre Wurzeln weit hinter der Literatur des alten Testaments haben.

Besonders zu achten ist in dieser Beziehung auf diejenigen Partieen der Apokalypsen, in denen wir es mit reinen Zukunftsweissagungen und nicht mehr mit der ja zum Teil rückwärtsschauenden apokalyptischen Betrachtung der Dinge zu tun haben. Hier wäre ja der Apokalyptiker ganz auf seine allerdings von den Erfahrungen der Gegenwart genährte Phantasie angewiesen, wenn ihm jenes überlieferte Material schon geprägter Bilder nicht zur Verfügung stünde. Hier begnügt er sich oft, ein geprägtes Bild zu übernehmen, das einigermaßen in seinen Zusammenhang paßt, ohne daß er es aus bestimmte Ereignisse deutete. Hier bleibt er selbst beim Geheimnis stehen, und wir würden ihm gar nicht gerecht werden, wenn wir ihm die Frage stellten, was er sich bei dem Bilde genau gedacht. Ein gutes Beispiel bieten die letzten Weissagungen des Danielbuches. Was Daniel 11,40ff. von dem König des Nordens erzählt, ist und bleibt undeutbar auch nach der eignen Meinung des Sehers, der hier eine ihm selbst undeutliche Weissagung bringt, von der erst die Zukunft den Schleier lüften soll. Wir dürfen im Sinn einer rechten Auslegung nur die Frage stellen, was jene übernommene alte Weissagung einst für eine Bedeutung gehabt haben


  1. Nämlich der Tradition, daß das große Weltenjahr in 70 (72) Wochen verläuft, so wie nach uralter Vorstellung das einfache Sonnenjahr 72 Wochen à 5 Tage (= 360 Tage) enthält. (Keilschriften u. d. A. Test.³ 328. 334f.).
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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S011.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)