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Entrückung. Der Visionär erlebt in der Ekstase, in der er seine Gesichte sieht, vielfach eine Ortsveränderung, er wandert durch fremde geheimnisvolle Gegenden im Himmel und auf Erden. Tatsächliche geheimnisvolle Erfahrungen, die wir als Erfahrungen des Hellsehens, des Fernwirkens zu bezeichnen pflegen, mögen mit dazu beigetragen haben, daß man mit aller Bestimmtheit diese Erfahrungen als Realität auffaßte. Vorbildlich ist auch hier Ezechiel 8,3, der eine solche Entrückung sehr realistisch auffaßt: „Und er reckte etwas wie eine Hand aus und erfaßte mich bei den Locken meines Hauptes, und der Geist hob mich empor zwischen Erde und Himmel brachte mich nach Jerusalem.“ Diese Vision des Ezechiel ist direkt nachgeahmt in der Erzählung des Baruch II Bar 6,3ff. und in der bekannten Erzählung der Entrückung Jesu durch den Geist im Hebräerevangelium.

Noch Paulus denkt so realistisch, daß er bekennt, nicht zu wissen, ob er innerhalb oder außerhalb des Leibes in das Paradies entrückt sei. II Kor 12,3. Nüchterner spricht Daniel 8,2 aus: „Ich schaute im Gesicht, da war es, als ob ich während desselben in der Burg Susa wäre, die in der Landschaft Elam liegt“. Besonders in der Henochliteratur ist das Thema der Entrückung des Sehers weit ausgesponnen. Die Legende von der Entrückung des Henoch gab ja vollkommen Veranlassung dazu. Während die älteren Stücke der Henochliteratur sich noch damit begnügen, Henoch die fernen und geheimnisvollen Orte der Erde durchwandern zu lassen, bringen ihn bereits die Bilderreden mit Vorliebe zu den geheimnisvollen Orten des Himmels und lassen ihn die Mysterien des Himmels schauen. In dem wahrscheinlich den Bilderreden erst angehängten Stück Kap. 70f. haben wir dann bereits eine reguläre Entrückung in den Himmel in ihren Einzelheiten geschildert. Dieses Thema von der Himmelfahrt erzeugt dann eine neue Literatur. Was in der älteren Apokalyptik nur Mittel zum Zweck war, die Entrückung des Sehers, wird zum Selbstzweck und Endzweck der Darstellung, die an dieser Form eine willkommene Gelegenheit fand, allerlei kosmologische, kosmogonische, transzendente Mysterien zu enthüllen. Musterbeispiel für diese Gattung der Apokalyptik ist das slavische Henochbuch. Neben die Himmelfahrten des Henoch treten bald solche des Jesaja, Baruch, Moses, Levi, Abraham und auch mancher moderner rabbinischer Helden, von denen man sich derartiges erzählte[1]. - Es ist demgegenüber bemerkenswert, daß unsere Apokalypse den Stil der eigentlichen „Himmelfahrt“ noch nicht kennt. Freilich wird auch in ihr der Seher entrückt. So sieht er in 4,1 den Himmel offen, eine Stimme tönt herunter ἀνάβα ὧδε, und wenn es dann weiter heißt εὐϑέως ἐγενόμην ἐν πνεύματι, so ist damit, wenn anders der Text in Ordnung ist, doch wohl angedeutet, daß der Seher sich nun im Geist in den Himmel erhebt. 17,3 entrückt der Engel ihn ἐν πνεύματι in die Wüste, 21,10 wieder ἐν


  1. Die Entrückung spielt auch in der heidnischen Offenbarungsliteratur eine Rolle. Vgl. R. Reitzenstein, Poimandres 1904. S. 5. 9f. 102f. 105 u.ö.; A. Dieterich, eine Mithrasliturgie 1903 und meinen Artikel über die Himmelsreise der Seele, Archiv f. Religionswissensch. IV. 2, 136ff. 229ff.
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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S005.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)