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göttlichen Ursprungs seien. Aber es ist bemerkenswert, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen Traumbildern und Visionen, Träumen und spezifisch ekstatischen Erfahrungen nicht gemacht wird.

Neben der Traumerfahrung ist aber in der Apokalyptik auch die

wirkliche Visionäre, ekstatische Erfahrung bekannt. Die Vision Dan 10ff. will Daniel im wachen Zustand an den Ufern des Tigris stehend erlebt haben. In der Übersetzung der Septuaginta zu Dan 4,16 wird deutlich geschildert, wie Daniel die Deutung des Traumes des Nebukadnezar nicht mehr im wachen Bewußtsein, sondern in der Ekstase gibt (vgl. Bousset Religion des Judentums 374). Auch in der syrischen Baruchapokalypse wird das visionäre Element stärker betont. Man vergleiche II Bar 13,1f.: „Danach stand ich Baruch auf dem Berge Zion und siehe, eine Stimme kam aus den Höhen und sagte zu mir: Stelle dich auf deine Füße, Baruch, und höre das Wort des allmächtigen Gottes.“ Noch charakteristischer ist 22,1 „Und darnach, siehe, taten sich die Himmel auf und ich sah es... und eine Stimme ward aus den Höhen vernommen, und sie sagte zu mir“ (vgl. bereits Ezechiel 1,1; andererseits Mt 3,16). Besonders lebendig und reich ist die Schilderung der visionären Exstase im Anfang der Visio Jesaiae (6,10ff.), die ja allerdings bereits in christlicher Bearbeitung vorliegt. Es scheint, als wenn die jüdische Apokalyptik sich mehr und mehr von der Richtung des einfachen Traumgesichtes zur ekstatischen Vision bewegt hat. Die Schilderungen derartiger Zustände werden häufiger; wir werden auch kaum annehmen dürfen, daß diese Schilderungen nur der Literatur angehören. Man kann vermuten, daß in den apokalyptisch erregten Zeiten derartige visionäre Erfahrungen vielfach gemacht sind. Ja, wir können sogar nachweisen, daß eine ganze Reihe in der Überlieferung mit Namen aufgeführter jüdischer Gelehrter Visionäre und Ekstatiker waren[1]. Mit der Zeit wird man auch, obwohl wir wenig Bestimmtes hier nachweisen können, einen Unterschied[2] in der Wertung der wirklichen Vision und des Traumes geltend gemacht haben. Bedeutsam ist jedenfalls in diesem Zusammenhange, daß die Offenbarung des Johannes das Mittel des Traumes nicht mehr kennt, sondern nur die wirkliche Vision, die sie mit einem ἐγενόμην ἐν πνεύματι 1,10; 4,2 (vgl. 17,3; 21,10) oder auch mit einem einfachen καὶ εἶδον umschreibt. Wie Ezechiel in seiner Eingangsvision, wie II Bar 22,1, schaut auch Johannes 4,1 eine im Himmel geöffnete Tür[3] und hört von dort eine Stimme. Immer herrscht die Vorstellung, daß in der Vision der Inhalt der geheimnisvollen oberen Welt in die der irdischen Daseinssphäre entrückte Seele des Sehers eintritt, oder dieser in jene Sphäre, wie wir gleich sehen werden, erhoben wird.

Eine gesteigerte Form der ekstatischen Vision ist dann die visionäre


  1. Bousset, Rel. d. Judentums. S. 349f. u. 379.
  2. vgl. die gegensätzliche Auffassung von Vision und Traum im hebr. Testam. Naphthali k. 2; 4; 7.
  3. vgl. auch Ascensio Jesaiae 6,6 (nach dem äthiop. Text): „sie hörten eine Tür, welche man öffnete und die Stimme des heiligen Geistes“.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen 1906, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S004.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)