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welche alle Qualitäten außer der passiven Disziplin, dem blinden Gehorsam überflüssig macht. Der Sklave, der leibeigene Bauer, der Soldat einer alten Despotenarmee brauchte bei der Ausführung seiner Arbeit nicht zu überlegen; das war überflüssig, sogar schädlich; er war ein lebendiges Werkzeug, nichts weiter.

Den anderen Bruch in der Arbeitsnatur des Menschen bedeutete die Spezialisierung. Jeder Spezialist hat seine Aufgabe, seine Erfahrung, seine besondere kleine Welt; der Ackerbauer kennt den Acker, den Hakenpflug[WS 1] und das Pferd; der Schmied seinen Amboß, seinen Hammer, seinen Blasebalg; der Schuster sein Leder, seine Ahle, seine Leisten; jeder kann nicht und mag auch nicht die fremde Arbeit kennen, um so besser kann er sich für die eigene sammeln, um so vollkommener beherrscht er sie. Dieser Bruch wird noch mehr vertieft durch die Abgesondertheit, durch die Unabhängigkeit der spezialisierten Wirtschaftskomplexe, die nur auf dem Markt beim Austausch der Waren zusammentreffen. Dort wird dieser Bruch durch den Kampf aller gegen alle noch ganz besonders vertieft, der Käufer gegen die Verkäufer um den Preis, der Verkäufer untereinander um den Absatz, der Käufer um die nötige Ware, wenn sie knapp ist.

Dieser zweite Bruch in der menschlichen Arbeitsnatur bedingt den Individualismus. Der Mensch gewöhnt sich in seinen Gedanken und Gefühlen daran, sich in Gegensatz zu den anderen Menschen zu stellen; er sieht in sich ein absolut gesondertes Wesen mit gesonderten Interessen, ein selbständig schöpferisches Wesen, das in seinen Bestrebungen und Handlungen von der Gesellschaft unabhängig ist. Das Individuum, das persönliche „Ich“ sind für ihn Zentrum der Weltanschauung, des Weltempfindens, die Freiheit dieses „Ich“ das höchste Ideal.

Diese beiden Brüche in der Arbeitsnatur durchdringen das Bewußtsein der alten Klassen und also auch ihre Dichtung. Die Dichtung der rein autoritären Epoche, des Feudalismus, ist durch und durch von dem Geiste der Autorität durchdrungen; ihre Mythen, ihre Epen, wie z. B. die Genesis bei den Juden, die Ilias und Odyssee bei den Griechen, Mahabkarat bei den Indern, die Bylinen und das Epos vom Heere des Igor bei den Russen, reduzieren den ganzen Gang des Lebens, die Verkettung seiner Ereignisse in Taten von Helden, Göttern, Königen, Führern; die Lyrik, das krasse Beispiel einer solchen bieten die Psalmen Davids, empfindet die Natur als eine Äußerung des göttlichen Willens, sie ist von Anbetung und Demut durchdrungen. In der Dichtung der bürgerlichen Welt herrscht der Individualismus; ist das Zentrum die Persönlichkeit, ihre Empfindungen, ihr Schicksal; das Poem, der Roman, das Drama schildern die Zusammenstöße der Persönlichkeit mit der äußeren Welt, ihre Beziehung zu anderen Menschen, zu der Natur, ihren Kampf um Glück, um eine soziale Laufbahn, ihr Schaffen, ihre Siege, ihre Niederlagen; die Lyrik hat nur die individuelle Psychologie, seelische Bewegungen und Stimmungen einer einzelnen Person; ihr subjektives Empfinden der Natur, ihr Leid, ihre Freuden, ihre Träume, ihre Enttäuschungen, ihre geschlechtliche Liebe, ihre Qualen und ihre Begeisterung, das ist der Inhalt der Lyrik.

Es sei erwähnt, daß die Dichtung der bürgerlichen Welt vieles von dem autoritativen Bewußtsein behalten hat, denn die bürgerliche Gesellschaft hat viele Elemente der autoritären Arbeitsgemeinschaft behalten. Elemente der Herrschaft und der Unterordnung, Außerdem bedingte die

Verschiedenheit der bürgerlichen Gruppen, die großen und die kleinen Kapitalisten, die höhere Intelligenz, die Konservativen und die fortschrittlichen Landwirte, die Börsenspekulanten und die Rentiers, zusammen mit den verschiedenen Kreuzungen und Mischungen dieser Gruppen, eine Mannigfaltigkeit der Formen und des

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Herkenpflug
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Alexandrowitsch Bogdanow: Über proletarische Dichtung. Die Aktion, Berlin 1921, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bogdanow_(1921)_UPD.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)