Seite:Bogdanow (1921) UPD.pdf/4

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

gewisse vorbereitende Organisierung der Kräfte des Kollektivs für irgendwelche Aktionen des gemeinsamen Lebens, des gemeinsamen Kampfes.

Die Dichtung, die das Leben wiedergibt, wie das Epos, das Drama, der Roman, hat eine der Wissenschaft gleiche organisatorische Bedeutung und dient zur Leitung der Menschheit, um auf Grundlage der früheren Erfahrung die gegenseitigen Beziehungen der Menschen einzurichten.

III

Die heutige Gesellschaft ist in Klassen eingeteilt. Das sind Kollektive, die durch viele Lebenswidersprüche voneinander getrennt sind und die sich deshalb einzeln mit verschiedenen Mitteln gegeneinander organisieren. Natürlicherweise sind ihre Organisationswerkzeuge, d. h. ihre Ideologien, verschieden, getrennt voneinander und stehen nicht nur in keinem Einklang, sondern meistenteils im schroffsten Gegensatz zueinander. Dies bezieht sich auch auf die Dichtung; in einer Klassengesellschaft ist auch sie eine Klassendichtung, eine Gutsbesitzer-, Bauern-, Bourgeoisie- und proletarische Dichtung.

Man muß es nicht in dem Sinn deuten, als verteidigte die Dichtung die Interessen dieser oder jener Klasse; das letztere kommt vor; aber sehr selten, und auch dann nur in politischer, in sozialer Dichtung. Im allgemeinen aber liegt ihr Klassencharakter viel tiefer. Er findet darin seinen Ausdruck, daß der Dichter auf dem Standpunkte einer bestimmten Klasse steht: mit ihren Augen sieht er die Welt, denkt und empfindet so, wie es seiner Klasse, ihrer sozialen Natur entspricht. Hinter dem Verfasser, dem Individuum steckt das Kollektiv als Verfasser, die Klasse; und die Dichtung ist ein Teil des Bewußtseins dieser Klasse, des Kollektivs.

Der Verfasser selbst denkt gar nicht daran, er ahnt es manchmal gar nicht. In seinen Dichtungen findet man manchmal gar keinen Hinweis auf die Klasse, aus der heraus sie entstanden sind.

Die Natur wird mit den verfeinertsten seelischen Bewegungen des Dichters in Einklang gebracht, auf den ersten Blick scheint uns diese Dichtung das vollkommenste Beispiel des „l’art pour l’art“ zu sein, der jede soziale Bedingtheit fehlt. Und doch fanden sich schon damals, als es noch keinen Marxismus gab, Leute, die ähnliche Dichtung als eine „Herren“- – als eine Gutsbesitzerdichtung empfanden. Und eine solche war sie auch, eine von den Stimmungen, von dem Milieu, von den Gedanken- und Lebensformen der Gutsbesitzerklasse bestimmte Poesie.

Die vollständige Abwendung von materiellen, wirtschaftlichen, prosaischen Sorgen, die in dieser Lyrik atmet, war nur für die Herren, die Gutsbesitzerelemente möglich, die sich immer mehr von der Produktion losrissen. Sogar die damals in Entwicklung begriffene Bourgeoisie, die in Gedanken an Gewinst und Konkurrenz aufging, die von der Geschäftsatmosphäre durchdrungen war, konnte es nicht zu einer so feinen Kultivierung der Empfindungen und Gefühle bringen; außerdem war sie als eine vorwiegend städtische Klasse nicht fähig, so feinfühlig die Natur zu verstehen und aufzunehmen wie ein ländlicher Gutsbesitzer. Und es ist offensichtlich, daß diese Dichtung die organisierende Kraft der im Absterben begriffenen Gutsbesitzerklasse sein mußte, die natürlich nicht kampflos ihren geschichtlichen Platz aufzugeben geneigt war und ihre Interessen energisch verteidigte. Diese Dichtung vereinigte die Vertreter des Herrentums nicht nur in einer gewissen Gemeinsamkeit der Stimmung, gleichzeitig stellte sie diese Schicht in einen Gegensatz zu der übrigen Gesellschaft, was wiederum das Gefühl der Zusammengehörigkeit förderte. Sie befestigte in ihr das Gefühl der geistigen Überlegenheit anderen Gesellschaftsschichten gegenüber und folglich auch ihr Recht auf eine

Empfohlene Zitierweise:
Alexander Alexandrowitsch Bogdanow: Über proletarische Dichtung. Die Aktion, Berlin 1921, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bogdanow_(1921)_UPD.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)