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Jahreszeitenwechsels gab die notwendigen anleitenden Hinweise für das System der landwirtschaftlichen Arbeiten, ebenso für die Jagd, die Fischerei und für alle anderen Beschäftigungen, deren Organisation sich auf eine planmäßige Verteilung der Arbeit nach Jahreszeiten, auf eine „Zeitorientierung“ stützt. Der Mythus von Toten gab Hinweise für die hygienischen Maßnahmen in bezug auf Leichen, damit die letzteren z. B. genügend tief, in genügender Entfernung von den Wohnungen begraben werden usw. Das primitive dichterische Wissen spielte in der damaligen Praxis eine ebenso organisierende Rolle wie die neuesten exakten Wissenschaften in der modernen Produktion.

II

Hat sich eigentlich die Lebensbedeutung der Dichtung sehr verändert?

Erinnern wir uns, was die alten Dichtungen von Homer, Hesiod für das alte Griechenland bedeuteten: ein wichtiges Erziehungsmittel. Und was ist Erziehung? Das ist die grundlegendste Organisationsarbeit, die der Gesellschaft neue Mitglieder zuführt.

Die Menschen werden in einer solchen Richtung vorbereitet, daß sie dann fähig sind, lebendige Glieder im System des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu sein, einen bestimmten Platz einzunehmen und eine Funktion im gemeinsamen sozialen Prozeß zu erfüllen. Die Erziehung organisiert das menschliche Kollektiv auf dieselbe Weise, wie man durch Beibringen des Marschierens, der Disziplin und der Kampfmethoden eine Armee organisiert.

Unsere Theoretiker, die aristokratischen und teilweise kapitalistischen Traditionen gemäß die Kunst als einen „Luxus“, als eine „wertvolle Verzierung des Lebens“ betrachten, merken nicht, in welchen Widerspruch sie mit sich selber geraten, wenn sie gleichzeitig der Kunst eine erzieherische, d. h. eine praktisch organisatorische Bedeutung zuerkennen.

Es gibt zwei bürgerliche Theorien: die der „reinen Kunst“ und die der „bürgerlichen Kunst“. Die erste behauptet, die Kunst müsse sich selber zum Zweck haben, sie von den Interessen und Bestrebungen des praktischen Kampfes der Menschheit frei sein. Die andere nimmt an, die Kunst müsse fortschrittliche Tendenzen des Menschheitskampfes verwirklichen. Wir können auf diese beiden Theorien verzichten, wenn wir untersuchen was die Kunst im Leben der Menschheit in Wirklichkeit ist. Die Kunst organisiert die Kräfte der Menschheit ganz unabhängig von den Aufgaben, die sie sich stellt.

Das „reinste“ Gebiet der Dichtung ist die Lyrik, die Kunst der persönlichen Stimmungen, der Gefühlserlebnisse. Sollte auch diese Kunst imstande sein, eine sozial organisierende Bedeutung zu haben?

Wenn die Lyrik nur die persönlichen Erlebnisse des Künstlers zum Ausdruck brächte, wäre sie für niemanden außer für ihn selbst verständlich und interessant, sie wäre dann keine Kunst. Ihr Sinn besteht darin, daß sie einen Typus von Stimmungen gestaltet, der vielen verschiedenen Leuten gemeinsam ist, eine Ähnlichkeit und Verwandtschaft der seelischen Bewegungen. Indem er den Menschen dieses Gemeinsame aufdeckt und erklärt, vereinigt sie der Dichter, er verbindet sie durch die unsichtbaren Fäden des gegenseitigen Verständnisses auf dem Gefühlsgebiet, durch das „Mitfühlen“, das er in ihnen allen erweckt. Gleichzeitig erzieht der Dichter eine Seite der Seele dieser Menschen in ein und derselben Richtung, was die seelische Verwandtschaft, die Festigkeit ihres Klassen- oder sozialen Zusammenhangs vertieft und befestigt. Dadurch wird aber auch die Möglichkeit gemeinsamer, harmonischer Handlungen vorbereitet unnd entwickelt; hier, wie wir es auch beim Kampfliede festgestellt haben, geht es um eine

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Alexander Alexandrowitsch Bogdanow: Über proletarische Dichtung. Die Aktion, Berlin 1921, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bogdanow_(1921)_UPD.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)