Seite:Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde 18 175.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nicht soweit, daß ihm nicht andere noch näher gestanden hätten. Ich konnte also sicher sein, daß, wenn ich dieses Mal nicht in den Teich stiege, schwerlich ein Engel noch einmal das Wasser für mich rühren würde. Richtiger wäre es dennoch gewesen, als Extraordinarius in Leipzig zu bleiben und mich zu einem tüchtigen Spezialisten in den Fächern auszubilden, die ich allmählich beherrschen lernte. Mein Leben hätte sich anders gestaltet. Das sollte nicht sein, und es ist müßig, Hypothesen nachhängen, außer in der Wissenschaft, wo es eine Weile sehr vorteilhaft sein kann.

Wenn ich nun doch einmal eine volle philologische Lehrstelle ausfüllen sollte, was früher nicht mein Gedanke gewesen war, so traf es sich günstig, daß ich in Gießen als Spezialkollegen den vortrefflichen Clemm fand, der mir bis an seinen Tod ein treuester Freund war. Bei seinen mannigfaltigen Kenntnissen und seinem nie verdrossenen Eifer, jede Arbeit anzufassen, die ihm nahegebracht wurde, lag seine entscheidende Begabung, wenn ich sein ganzes Leben überschaue, doch auf einem anderen Gebiete, und wie wenige haben, wenn man aufrichtig sein will, das Glück, gerade das als Lebensberuf zu ergreifen, was mit ihrer Begabung sich deckt! Er besaß in seinem klaren Verstande ein bedeutendes auf Organisation gerichtetes Talent und würde als Beamter der höheren Verwaltung noch größeres geleistet haben, wie als akademischer Gelehrter. Er war mir zu jeder Hilfe bereit, nahm mir, was ich wünschte, ab und erledigte alles geschäftliche wie im Spiel. Neben ihm als Sprachforscher und Grammatiker konnte ich am ehesten ihn ergänzend zunächst meine mehr auf das Geschichtliche unserer Studien gehende Richtung verfolgen und allmählich zur eigentlichen Philologie hinüberlenken. Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß unser Zusammenarbeiten glücklich war und der Erfolg unserer praktischen Arbeit in Anbetracht der kleinen Verhältnisse leidlich befriedigend.

Eine für mich ganz neue Seite meines Lebens war die Beteiligung an den amtlichen Pflichten des Professors. Durch Erneuerung von Statuten und Prüfungsordnungen gab es vielerlei Arbeit. Ich erinnere an eine länger andauernde Bewegung zu Gunsten schärferer Promotionsbedingungen, in die auch ich eingriff.[1] Das brachte Leben und Anregung, nahm aber auch mehr Zeit, als um der wissenschaftlichen Vertiefung willen gut war. Ganz konnte man sich solchen Aufgaben nicht entziehen, und die Mitte halten ist dem Menschen das Schwerste. Um mich über den Zeitaufwand zu trösten, sah ich ihn als den Tribut an, den der Gelehrte dem öffentlichen Leben bringt, von


  1. Über die Reform der Doktorpromotion. Eine akademische Rede. Gießen, 1876.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Biographisches Jahrbuch für Alterthumskunde, 18. Jahrgang (1895). S. Calvary & Co., Berlin 1896, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Biographisches_Jahrbuch_f%C3%BCr_Altertumskunde_18_175.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)