Seite:Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde 18 167.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Theologie dachte ich längst nicht mehr. Entschiedene Neigung hatte ich für Geschichte. Aber meine Neigung kam hier nicht in Frage. Ich zwang mich möglichst viel zu lernen, was nützlich wäre, wie ich es auch immer einmal würde brauchen können. Unter diesem Zeichen begann ich mein erstes Göttinger Semester, und so blieb es bis ans Ende des dritten. Ich arbeitete unablässig, während des Semesters und in den Ferien, hörte viele Kollegien, philologische, geschichtliche, germanistische, und nach drei Semestern machte ich, was ich nie vorher gedacht hätte, ein recht gutes Oberlehrerexamen. Um dies Ergebnis auch nur mir selbst jetzt noch verständlich zu machen, habe ich mir längst folgendes gesagt. Ich hatte wohl manche Kenntnis mir erworben und auch, wie mein Zeugnis aussagte, die Fähigkeit, über Dinge, die mir weniger bekannt waren, mich zu orientieren und auszudrücken. Ich hatte ausgezeichnete Lehrer. Ernst Curtius und Sauppe bedürfen meines Lobes nicht. Sauppes Vorlesungen waren in einer Weise sauber und accurat, wie ich nichts ähnliches wieder gehört habe. Und was ich an Gesamtauffassung der antiken Welt nicht aus Büchern gelernt habe, verdanke ich großenteils Ernst Curtius. Aber ich hatte in ihnen auch vortreffliche Examinatoren, die nicht die Einzelleistung, sondern den ganzen Menschen mit seinem Willen und der Bemühung, die hinter ihm lag, ansahen und die Möglichkeit dessen ins Auge faßten, was ein solcher Mensch später, wenn er mehr gelernt haben würde, noch werden könnte, – und diese vortrefflichen Männer hatten eine Prüfungsordnung, die ihnen das gestattete. Wie wenig zudringlich waren damals die jetzt immer massiver auftretenden „Nebenfächer“ und die „Vorbildung“! Meinen philosophischen Examinator z. B. – Heinrich Ritter – hatte ich nie gehört, zufällig auch bis zum mündlichen Examen nicht einmal gesehen (ich hatte bei einem Extraordinarius gehört). Aber man soll nicht meinen, daß uns die „Bildung“ durch die Nebenfächer darum gefehlt hätte. Ich zweifle sogar, ob wer jetzt das Deutsche als Hauptfach gewählt hat, eine solche Belesenheit in den mittelhochdeutschen Dichtern besitzt, wie wir sie uns bei dem bescheidenen Wilh. Müller aneignen mußten und dann im Examen beweisen konnten. – Doch die Zeiten und die Prüfungsordnungen, vielleicht auch die Menschen sind anders geworden. –

Ehe ich von Göttingen Abschied nehme, will ich noch eines Mannes gedenken, der bei Lebzeiten wenig gelobt worden und nach seinem Tode bald vergessen ist, weil er sich um mich ein besonderes Verdienst erwarb. Wie ich von Anfang an in Göttingen meine Neigungen und Abneigungen nicht gelten zu lassen beschlossen hatte, so belegte und hörte ich gleich eine Vorlesung bei E. von Leutsch, eigentlich nur, damit er mich im Seminar besser behandelte, dann aber auch, weil es mir unrecht schien, hier auch nur eine bezahlte Gottesgabe ungenossen zu lassen. Und das lohnte sich. Denn ich habe nicht

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Biographisches Jahrbuch für Alterthumskunde, 18. Jahrgang (1895). S. Calvary & Co., Berlin 1896, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Biographisches_Jahrbuch_f%C3%BCr_Altertumskunde_18_167.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2018)